Beschreiben, nicht beurteilen

Mary Gaitskills Erzählungen "Bad Bevavior" schlugen in den 1980er-Jahren mit einem lauten Krach in die New Yorker Literaturszene ein - und im Big Apple ist man Getöse eigentlich gewohnt. Jetzt ist das lange vergriffene Kultbuch endlich wieder in deutscher Übersetzung erhältlich. Gaitskill, die nach eigenen Angaben als Stripperin und Callgirl arbeitete, bevor sie zum Schreiben begann, lieferte schonungslos ehrliche Porträts, die oft an den Rändern der Gesellschaft angesiedelt sind - oft aber auch mittendrinnen. Nicht selten geht es in den ebenso ruppigen wie berührenden Geschichten um so genannte Tabuthemen: nicht mainstreamige Sexualpraktiken, Suchtverhalten auf allen Ebenen, Abhängigkeiten. Gaitskill zeigt mit gelassenem, oft bitterkalten Ton schonunglos auf, was alles im Menschen steckt - und streckt dabei nie den Zeigefinger in die Höhe. Es ist, was es ist. Beschreibung, nicht Beurteilung. Und schon gar nicht Verurteilung. Die Erzählung "Secretary" wurde übrigens 2002 von Steven Shainberg verfilmt. Nicht zum großen Gefallen der Autorin. Der Film sei eine "Pretty-Woman-Version" ihrer Story, meinte Gaitskill. Wer die Hardcore-Version haben möchte, muss das Buch lesen.

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Mary Gaitskill: "Bad Behavior". Schlechter Umgang.
Blumenbar. 224 Seiten, 20,60 Euro.

Blutige Geschwisterliebe

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Man möchte den Ton der Nigerianerin Oyinkan Braithwaite, die in Lagos lebt und schreibt, gerne "lässig" nennen - obwohl durch recht viel Blut fließt. Aber das ist schließlich bei Tarantino-Filmen auch so. Der Debütroman von Braithwaite, der u.a. für den Booker Prize und den Women's Prize nominiert war, ist eine flotte, frech geschriebene Familiengeschichte mit der Besonderheit, dass die Schwester der Erzählerin die Gewohnheit hat, ihre Liebhaber umzubringen, wenn die Harmonie zu wünschen übrig lässt. An der braven Schwester, idealerweise eine Krankenschwester, bleibt es dann hängen, die blutigen Sauereien zu entfernen. Braithwaite hat einen richtig fiesen, rasanten Roman geschrieben. Aber man sollte sich von der coolen Oberfläche nicht austricksen lassen. Denn unter der Oberfläche dieses Thrillers brodelt eine Hexenküche, in der die mordende Schwester noch das geringste Übel ist. Schreit nach einer Verfilmung! Quentin bitte übernehmen.
Oyinkan Braithwaite: "Meine Schwester, die Serienmörderin". Blumenbar. 240 Seiten, 20,60 Euro.

Die Untiefen einer Familie

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Auch hier stehen zwei Schwestern im Mittelpunkt des Geschehens, doch der Erzählkosmos von Katya Apekina - geboren in Moskau, seit ihrem dritten Lebensjahr in den USA wohnhaft - ist ein gänzlich anderer. Nach dem Selbstmordversuch der Mutter ziehen Edie (16) und Mae (14) zu ihrem Vater nach New York, der dort als gefeierte Schriftsteller-Ikone lebt. Während die Jüngere die plötzliche Anwesenheit des Vaters, der die Familie früh im Stich gelassen hat, schätzt, liefert sich die Ältere mit ihrem Erzeuger wilde Rasereien. Doch wer war schuld am Zerbrechen der Familie? Die Version, dass der Literatur nur seinem übergroßen Ego gefolgt ist, hält nicht lange. Welche Rolle spielte die Mutter, eine labile Fantastin, deren Gedichte nie veröffentlich wurden? "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." Apekina folgt diesem berühmten ersten Satz aus Tolstois "Anna Karenina" auf souveräne, feinfühlige Weise und taucht tief in die oft schmutzigen Familien-Gewässer ein. Im englischen Original lautet der Titel übrigens: "The Deeper The Water The Uglier The Fish".
Katya Apekina: "Je tiefer das Wasser".
Suhrkamp. 394 Seiten, 24,70 Euro.