Manuel Brug ist ein stets gut informierter Mundfunkmoderator. Der Musikkritiker der „Welt“ will schon flüstern gehört haben, was die Salzburger Festspiele zu ihrem Jubiläumsjahr 2020 aufbieten, außer die schon fixierte Übernahme von Gaetano Donizettis „Don Pasquale“ von Cecilia Bartolis Pfingstfestival. Zum Beispiel „Elektra“ von Richard Strauss mit Franz Welser-Möst und Krzysztof Warlikowski. Mozarts „Don Giovanni“ mit Teodor Currentzis und Romeo Castellucci, der Salzburg die so eindringliche „Salome“ schenkte. Dazu Mussorgskis „Boris Godunow“, die überarbeitete „Zauberflöte“ von 2018 und „Intolleranza“, Luigi Nonos flammender Protest gegen alle Arten von Unterdrückung. Und Puccinis „Tosca“ mit Anna Netrebko, „angeblich in der Produktion der Osterfestspiele 2018“, wie Brug weissagt.

So viel zum Ausblick, nun der Rückblick auf die Festspiele, die am 31. August zu Ende gehen. Intendant Markus Hinterhäuser setzte in seiner dritten Saison, die der „Kraft der Mythen“ gewidmet war, seinen Weg konsequent fort. Der 61-Jährige versteht das Festival ja nicht als exklusiven Klassik-Wurlitzer, bei dem das bloße Abspielen des Besten vom Besten genügt und die Geldscheinsonate erklingt. Für ihn sind Kunst und Kultur immer auch seismographische Instrumente zur Untersuchung des Zustands der Gesellschaft.

Bei diesen Vermessungen der Welt nimmt er gern Risiko, Gefahr des Scheiterns inklusive. Dieses ist heuer kaum passiert, obwohl man mit dem erwarteten Höhepunkt gleich zum Auftakt den Erfolg von Mozarts „Titus“ vor zwei Jahren mit dem kongenialen Duo Peter Sellars & Teodor Currentzis nicht wiederholen konnte. Wohl deshalb, weil der „Idomeneo“ ja nicht viel mehr als eben eine Wiederholung der Produktion von 2017 war. Der Regisseur deutete das Stück gemäß seiner engagierten Eröffnungsrede zu bemüht mit Blick auf die fatalen Folgen des Klimawandels, der wahre Tiefgang in Mozarts „Meeresoper“ fand im Graben statt, durch Currentzis, der nun auch an der Salzach kultisch verehrt wird.

Weit besser fügten sich Regie und Musik in Luigi Cherubinis Oper „Médée“, die großes Kino bot, weil Simon Stone die Rarität als heutige Familientragödie in filmartigen Szenen erzählte und Thomas Hengelbrock mit den Wiener Philharmonikern dazu einen stimmigen „Soundtrack“ lieferten.
Salzburgs Liebkind Anna Netrebko bescherte den Fans diesmal Hochs und Tiefs. In „Adriana Lecouvreur“ ließ die Starsopranistin mit der Vollblüte ihrer Stimme das Publikum himmelhoch jauchzen. Und als sie die zweite von drei Aufführungen von Cileas Belcanto-Fest krankheitshalber absagen musste, waren zig Zuhörer so zu Tode betrübt, dass sie Karten kurzfristig verscherbelten oder sogar zurückgaben....

Vor solchen Auswüchsen, die der Starbetrieb generiert, sind natürlich auch die Salzburger Festspiele nicht gefeit. Aber, und das ist Hinterhäusers Leistung, dieser Starbetrieb ist gleichsam domestiziert vom Ernst des Spielplans.

Dass Andreas Kriegenburgs im Grunde nicht allzu gelungene  Regie von Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ subtil (und höchstwahrscheinlich unabsichtlich) die thematischen Fäden aufgriff, die Sellars bei „Idomeneo“ gesponnen hatte, fiel gar nicht so vielen Leuten auf. Was jedoch völlig unübersehbar bleibt: Hinterhäuser setzt lauter erstrangige Stücke an. Man möchte das für einen selbstverständlichen Usus halten, aber ein Blick in die Salzburg-Annalen zeigt das Gegenteil. Die Moderne ist nun nicht länger ein Feigenblatt, das das sonstige Durcheinander aus populären Stücken legitimieren soll, sondern Ausdruck einer gehaltvollen Planung.

Kriegenburg, Sellars, Stone, Currentzis: Hinterhäuser verlässt sich auf seine Stammkünstler, die – meist – für spannende Ergebnisse sorgen. Einer davon ist Regie-Doyen Achim Freyer, dessen „Oedipe“, eine große Wiederentdeckung aus der Feder von George Enescu, der szenische Höhepunkt des Festivals war: Freyers Ästhetik schien sich in den vergangenen Jahren ja deutlich abgenutzt zu haben, aber hier strahlte und glänzte sein Bildertheater wie neu.

Vier Mal Sprechtheater

Theater als Wanderzirkus – warum denn nicht? In ihrem dritten Jahr als Schauspiel-Chefin setzte Bettina Hering den Modus der Koproduktionen noch überzeugender um. Aus guten Gründen. Derlei Kooperationen senken die Kosten erheblich und sie ermöglichen die Begegnung mit herausragenden Ensembles. Drei der vier gezeigten Inszenierungen ziehen weiter – nach Hamburg, Stuttgart und Berlin.
In einer eigenen Liga spielte das Hamburger Thalia-Theater mit der kompakten, vom grandiosen Regisseur Kornél Mundruzcó zum Teil auf den Kopf gestellten „Liliom“-Deutung, fernab von jeglichem Rummelplatz-Kitsch. Die Berliner Schaubühne entlarvte auch in der Bühnen-Version von Ödon von Horváths „Jugend ohne Gott“ die beklemmend plumpe, aber noch immer intakte Faschismus-Mechanik. Als Auftragswerk schuf Theresia Walser mit „Die Empörten“, koproduziert mit dem Schauspiel Stuttgart, eine rabenschwarze Politiker-Farce, wobei sie sich reichlich an der absurden Realität bediente. Allzu schrill und hysterisch erwiesen sich Gorkis „Sommergäste“.
Viel zu lange wurde das Theater bei den Festspielen auf einer Nebenschiene schematisch abgespult. Damit hat es ein Ende, gut, schön und wichtig so.