Die aktuelle Lage in Afghanistan verschärft auch die innenpolitische Debatte. Die Grünen sprechen sich immer deutlicher gegen den Kurs ihres türkisen Koalitionspartners aus, der bis zuletzt Abschiebungen in das Krisenland durchführen hatte wollen. Nachdem Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein das Thema am Sonntag als erledigt bezeichnet hatte, wählte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, via Twitter deutlichere Worte: „Alle, die jetzt nicht über akute Hilfe und Versorgung für die Fliehenden, sondern über Abschiebung reden – schämt Euch einfach.“ Diakonie-Asylexperte Christoph Riedl attestierte der Regierung eine „beinahe trotzige Haltung“. „Statt sich zu überlegen, wie man möglichst vielen Menschen helfen kann, überlegt man weiterhin, wie man Menschen nach Afghanistan abschieben kann, was völlig absurd ist.“

Die ÖVP gibt sich von dieser Kritik weiterhin unbeeindruckt. „Wenn Abschiebungen aufgrund der Grenzen, die uns die europäische Menschenrechtskonvention setzt, nicht mehr möglich sind, müssen Alternativen angedacht werden“, lässt Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wissen.

Abschiebungen in EU-Zentren

Einen Vorschlag dafür lieferte er gemeinsam mit Außenminister Alexander Schallenberg: Abschiebungen könnten in eigens eingerichteten Zentren in der Region rund um Afghanistan durchgeführt werden. Diesen Vorschlag werde Nehammer bei der morgen stattfindenden Sondersitzung der EU-Außen- und Innenminister vorbringen. „Dafür braucht es die Kraft und die Unterstützung der Europäischen Kommission,“ erklärt er.

Aus Oberösterreich, wo im Herbst Wahlen bevorstehen, kommen indes warnende Töne. Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) stellt in einer Aussendung eine mögliche neue „Flüchtlingswelle“ wie jene im Jahr 2015 in Aussicht. Sechs Jahre danach dürfe sich die EU diesmal nicht erneut „überrollen lassen“.

"Ausreise praktisch unmöglich"

Eine Warnung, der zahlreiche Expertinnen und Experten widersprechen. „Aktuell gibt es praktisch keine Möglichkeit für die Menschen, das Land zu verlassen“, erklärt Markus Gauster vom Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement im Bundesheer. „Die chaotischen Zustände am Flughafen in Kabul zeigen, dass eine Ausreise per Flugzeug derzeit wenig realistisch ist. Und die Nachbarländer Pakistan und Iran schotten sich seit Jahren mit Mauern von Afghanistan ab, um sich vor Migration, Drogenhandel und Terrorismus zu schützen.“ Dort bereite man sich aktuell mit Pufferzonen auf ankommende Flüchtende vor.

In der aktuellen Debatte um eine neue Fluchtwelle gibt Gauster zu bedenken: „Der Vergleich mit der damaligen Migrationsbewegung hinkt. Denn jene Afghanen, die sich damals auf den Weg nach Europa gemacht haben, kamen nicht direkt aus Afghanistan, sondern vorrangig aus dem Iran, wo sie zuvor jahrzehntelang gelebt haben.“

Große Schleppereiaktivitäten in der Region seien bisher ebenfalls nicht zu registrieren, sagt Gerald Tatzgern, Leiter des Büros zu Bekämpfung der Schlepperkriminalität im Innenministerium. „Wir beobachten aber laufend auch die Sozialen Medien, ob sich dort Aufrufe in diese Richtung verbreiten.“ Auch die Lage in der Türkei werde laufend geprüft.