Die Beratungsstelle Zara meldet einen massiven Anstieg an rassistischen Übergriffen im Vorjahr. Allein im Juni, als die Black Lives Matter Demo abgehalten wurde, gingen über 400 Meldungen ein. Woran liegt das?
MIREILLE NGOSSO: Durch die Black Lives Matter Bewegung haben wir mehr Sensibilität geschaffen bei den Betroffenen, dass das, was immer wieder vorfällt, keine Einbildung ist, sondern eine Realität. Eine Realität, der Schwarze Menschen ins Auge sehen. Aber es ist wichtig, dass alle, die Rassismus kleinreden und auch die Verantwortlichen in der Politik unausweichlich sehen: Es passieren rassistische Vorfälle in Österreich und wir müssen was dagegen tun. 

Wie rassistisch ist Österreich? 
Letztes Jahr haben 50.000 Menschen in Österreich gegen Rassismus demonstriert. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Bevölkerung immer noch einen großen Teil gibt, der rassistisch ist. Dazu kommt ein fast unsichtbarer struktureller Rassismus, der fast alle Lebensbereiche durchzieht. Wir leben in einer vermeintlich weißen Mehrheitsgesellschaft, in der in vielen Bereichen Rassismus einfach ins System eingebaut ist. Das müssen wir aufzeigen.

Wie äußert sich dieser strukturelle Rassismus?
Viele berichten, dass es extrem schwierig ist als Schwarze Person einen Job zu finden, vor allem in den höheren Positionen. Oft werden Kinder nach der Volksschule ausgesondert, und automatisch in die Hauptschule geschickt. In den Deutschförderklassen werden Kinder von ihren Freunden getrennt und wie Aussätzige in eine eigene Klasse ausgesondert. Als ich in der Schule war, hätte ich nie so gut Deutsch gelernt oder so viele gute Freundinnen kennengelernt, wenn ich von meinen Klassenkameraden getrennt worden wäre. 

Sie sind mit vier Jahren nach Wien gekommen. Wie oft wird Ihnen das Gefühl „Du gehörst nicht hierher“ vermittelt?
Als Jugendliche sehr häufig, da war das auch ein großes Problem für mich. Jetzt lasse ich mir das nicht mehr einreden. Ich hab mein ganzes Leben hier verbracht, ich bin Wienerin mit kongolesischen Wurzeln, und das ist gut und richtig so. 

Was kann die Politik gegen Rassismus unternehmen?
Es gibt viele Hebel, um Menschen, die von Rassismus betroffen sind, zu unterstützen. Im Aktionsplan gegen Rassismus, den die Grünen eingebracht haben, sind viele gute Ideen. Zum Beispiel, dass es in jeder Institution Rassismusbeauftragte geben sollte oder eine Meldestelle für die Polizei, die nicht im Innenministerium angesiedelt ist. Leider wurde noch nichts davon umgesetzt. Für eine Umsetzung eines solchen nationalen Aktionsplans setzt sich momentan das Black Voices Volksbegehren ein.

Sie fordern auch eine Migrantenquote für den öffentlichen Dienst. Wie soll das funktionieren?
Wichtig ist die Begrifflichkeit: Die Quote darf nicht nur Menschen umfassen, deren Eltern im Ausland geboren wurden, sondern muss alle miteinbeziehen, die benachteiligt sind und Unterstützung durch eine Quote brauchen. Möglich wäre zum Beispiel ein Punktesystem, in dem die Migrationsbiografie, der sozioökonomische Status, das Geschlecht miteinbezogen werden. Wer mehr Punkte hat, wird bei Jobs bevorzugt. So ließe sich Ausgewogenheit innerhalb von Institutionen schaffen.

Was sagt ihre Partei, die Wiener SPÖ, zu einer verpflichtenden Migrantenquote? 
In der Partei gibt es kein Programm für eine Quote. Ein Diskurs mit der SPÖ kann hier sicherlich zielführend sein, vor allem wenn man sich Bespiele wie Berlin anschaut, wo gerade über die Einführung einer ähnlichen Quote debattiert wird.

Sie arbeiten als Ärztin. Weltweit wurden unter Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich hohe Infektionsraten mit Covid-19 erhoben. Woran liegt das?
Schauen Sie einmal, welche Jobs diese Menschen haben. Sie sind am häufigsten in prekären Arbeitssituationen, die kaum abgesichert sind. Wer Angst hat, seinen Job zu verlieren, lässt sich nicht gerne testen. Oder sie arbeiten an vorderster Front in systemerhaltenden Berufen, wo Homeoffice keine Option ist. Die Coronakrise hat Probleme, die schon da waren, wie durch ein Vergrößerungsglas aufgezeigt und verschlimmert. Dazu kommt, dass wir Medizinerinnen nur an weißen, männlichen Körpern lernen, wie der Mensch funktioniert. Kaum an Frauen, nie an Schwarzen Menschen. Dabei wäre das so wichtig. Jede Krankheit wirkt sich bei Menschen mit Migrationshintergrund und People of Color anders aus. 

Was meinen Sie? 
Menschen mit Migrationsbiografie zeigen zum Beispiel Schmerz auf sehr unterschiedliche Weise: Die einen schreien, die anderen leiden stumm. Das muss man im Studium auch lernen. Diese kulturelle Kompetenz muss man aufbauen. Auch in der Dermatologie gibt es so gut wie keine Behandlungen, die sensibel gegenüber verschiedenen Hautfarben arbeiten.

Zuletzt gab es Proteste, dass europäische, weiße Autoren das Gedicht von Amanda Gorman übersetzten. Dürfen Weiße Schwarze übersetzen? 
Fragen wir doch andersrum: Wie viele Schwarze Personen übersetzen Texte von weißen Personen? So gut wie Null. Auf der anderen Seite kommt das so gut wie gar nicht vor. Bevor sich die weiße Mehrheitsgesellschaft reflexhaft angegriffen fühlt, muss man verstehen, um was es dabei tatsächlich geht. 

Und zwar? 
Die Lebenserfahrung schwarzer Frauen ist einzigartig und kann nicht von einem weißen Mann adäquat dargestellt oder übersetzt werden. Schwarze Frauen stehen gesellschaftlich auf der letzten Stufe. Sie kommen kaum vor, werden kaum mitgedacht. Sogar der Feminismus ist sehr bürgerlich und weiß. Für mich soll es vor allem um diese Diskussion, nicht um beleidigte weiße Männer gehen.