Für Ines Stelzl und ihre Kinder läutet morgens kein Wecker, es werden keine Jausenbrote geschmiert und keine Rucksäcke gepackt. Die 33-Jährige Südsteirerin hat sich dazu entschieden, ihre Kinder ohne Kindertagesstätte (Kita) und Kindergarten aufwachsen zu lassen. Sie betreut ihren bald fünfjährigen Sohn und die zweijährige Tochter zuhause und folgt damit einem Modell, das in sozialen Medien wachsende Aufmerksamkeit bekommt. Über 33.000 Beiträge findet man auf Instagram zum Stichwort „kitafrei“, knapp 14.000 zu „kindergartenfrei“. Was steckt hinter diesem Trend?
Kinderbetreuung im Wandel
„Mein Sohn sagte heute zu mir: Mama, du bist die Beste. Danke, dass ich nicht in den Kindergarten muss“, berichtet eine Bloggerin, die auf sozialen Medien ihr „kitafreies“ Leben teilt. Die zentrale Botschaft von Accounts wie diesen: Der frühe Besuch von Betreuungseinrichtungen kann sich negativ auf die Entwicklung von Kindern auswirken, während die Betreuung in der Familie – in der Praxis häufig durch die Mutter – den Kindern mehr Freiheit bietet. Viele Menschen, die sich für dieses Lebensmodell entscheiden, vertreten diese Sichtweise. Stelzl gab dem Kindergarten zunächst eine Chance, doch ihr Sohn habe mit den anderen Kindern noch nichts anfangen können. „Mama und Papa gaben ihm die nötige Sicherheit, also nahmen wir ihn wieder aus dem Kindergarten“, so die heute 33-Jährige. Statistisch gesehen ist sie mit dieser Entscheidung ein Ausreißer. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten werden immer mehr Kinder in jungem Alter außerhalb der Familie betreut. 2024 waren es österreichweit rund ein Drittel der Einjährigen, fast zwei Drittel der Zweijährigen und knappe 90 Prozent der Dreijährigen, das zeigt ein Monitoring der Statistik Austria.
Trotz dieser Entwicklung geben immer mehr Frauen online Einblicke in ihren Familienalltag ohne Kindergarten, Tagesmutter oder Krabbelstube. Wer einmal in die Social-Media-Bubble zum Thema „kitafrei“ eintaucht, wird schnell mit Beiträgen überschwemmt, die die „Fremdbetreuung“ kleiner Kinder als negativ darstellen. Doch was sagen Expertinnen aus der Wissenschaft dazu? Entwicklungspsychologin Karin Landerl von der Universität Graz: „Schon der Begriff ‚Fremdbetreuung‘ ist problematisch. Das Kindergartenpersonal ist für Kinder nicht fremd. Die Zeit, in der Kinder einfach in einer Einrichtung abgegeben werden, ist längst vorbei. Heute gibt es begleitete Eingewöhnungsphasen und die Pädagoginnen und Pädagogen werden zu Bindungspersonen für die Kinder.“ Um eine Bindung zu Erwachsenen aufzubauen, sei es für Kinder in erster Linie nicht relevant, ob es sich dabei um ein Familienmitglied handle, sondern ob die Person verlässlich sei. „Kinder bauen Netzwerke an Bindungspersonen. Je breiter diese sind, desto besser“, erklärt Landerl.
Mit der Psychologin Stefanie Stahl – bekannt durch den Bestseller „Das Kind in dir muss Heimat finden“ – meldet sich auch eine prominente Stimme immer wieder zur Thematik zu Wort. Sie empfiehlt, Kinder „wenn es sich vermeiden lässt, auf keinen Fall unter zwei Jahren in die Kita zu geben.“ Der Hintergrund dazu: Es sei für die Gehirnentwicklung nicht gut, wenn Kinder so früh eine Kita besuchen. „Aus entwicklungspychologischer Sicht kommt das auf die individuelle Situation an. Große Studien aus den USA belegen, dass alles davon abhängt, wie es um die Qualität der Einrichtung bestellt ist“, sagt Landerl dazu.
„Qualität schlägt Quantität“
Die Entwicklungspsychologin sieht jedenfalls einen wesentlichen Vorteil des Kindergartens- und Krippenumfelds: „Die Kinder verbringen hier Zeit mit ausgebildeten Personen, die angemessenes Programm für Kleinkinder bieten. Das können nicht alle Familien in diesem Umfang leisten. Oft laufen Kinder im Alltag mit, auch da kann viel gelernt werden, doch im Kindergarten ist alles zu hundert Prozent auf Kinder ausgerichtet.“ Die Qualität der Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, schlägt laut Landerl ganz klar die Quantität. „Oft ist der Kindergarten da auch eine Entlastung. Wenn die Eltern mal in Ruhe einkaufen oder etwas für sich machen können, dann kann die gemeinsame Zeit entspannter verlaufen.“ Dass frühe Betreuung die Bindungsqualität zu den Eltern negativ beeinflusst, eine Behauptung, die immer wieder aufgestellt wird, kann laut Landerl aus wissenschaftlicher Perspektive jedenfalls „ganz klar zurückgewiesen werden“.
Freie Entscheidungen treffen auf soziale Realitäten
Über der gesamten Debatte schwebt nicht zuletzt auch die soziale Realität: Die Möglichkeit, ein „kitafreies“ Leben ernsthaft in Betracht zu ziehen, setzt einige Privilegien voraus. Viele Familien können es sich finanziell nicht leisten, dauerhaft nur von einem Einkommen zu leben. Andere sind alleinerziehend, ohne familiären Rückhalt und daher auf Betreuung außerhalb der Familie angewiesen. Auch für Stelzl funktioniert ihr „kitafreies“ Lebensmodell auch deshalb so gut, weil sie viel Unterstützung von den Großeltern ihrer Kinder bekommt. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in den sozialen Medien zwar häufig sichtbar wird, in der öffentlichen Debatte jedoch kaum thematisiert wird, ist die Tatsache, dass eine ausschließliche familiäre Betreuung in der Praxis meist zulasten von Frauen geht – jener Gesellschaftsgruppe also, die ohnehin bereits den Großteil der Care-Arbeit leistet. Wer über Jahre aus dem Erwerbsleben aussteigt, erhöht zudem das Risiko für Altersarmut – ebenfalls ein Problem, das Frauen in besonderem Maße trifft.