Russland hat nach dem schwersten Anschlag seit 20 Jahren mit einem nationalen Tag der Trauer der Opfer gedacht. Flaggen wehten am Sonntag landesweit auf halbmast. Zahlreiche Menschen legten Blumen am Anschlagsort, der ausgebrannten Crocus City Hall, am Rande von Moskau nieder, wo vier Attentäter am Freitagabend bei einem Konzert der noch aus der Sowjet-Zeit stammenden Rockgruppe Picnic um sich schossen. Die Zahl der Todesopfer stieg mittlerweile auf 137, wie die Behörden mitteilten. Darunter seien drei Kinder. 180 Menschen wurden den Angaben zufolge verletzt.

Selenskyj: Putins Verhalten sei „absolut vorhersehbar“

Zu dem Anschlag bekannt sich die Extremisten-Organisation Islamischer Staat (IS). Doch Präsident Wladimir Putin hat die Islamisten bisher nicht öffentlich im Zusammenhang mit dem Anschlag erwähnt, auch wenn er die Tat dem „internationalen Terrorismus“ zuschrieb, sondern eine Verbindung zur Ukraine gezogen. Die Ukraine, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren Krieg führt, bestritt wiederholt, etwas mit dem Anschlag zu tun zu haben.

Die Attentäter hätten versucht, sich in die Ukraine abzusetzen und auf „der ukrainischen Seite“ habe es Vorbereitungen gegeben, sie über die Grenze zu bringen, sagte Putin in einer Ansprache an die Nation am Samstag. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB erklärte, die Bewaffneten hätten Kontakte in der Ukraine und seien in der Nähe der Grenze gefasst worden. Die mutmaßlichen Täter wurden am Sonntag in die Moskauer Zentrale des staatlichen Ermittlungskomitees gebracht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Putin vor, die Schuld auf die Ukraine abwälzen zu wollen. Es sei „absolut vorhersehbar“ gewesen, dass Putin 24 Stunden lang geschwiegen habe, bevor er den Anschlag mit der Ukraine in Verbindung gebracht habe, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache.

Selenskyj warf Russland vor, selbst Terror zu verbreiten. Russen kämen in die Ukraine, um Städte niederzubrennen, "und versuchen, die Schuld auf die Ukraine zu schieben". Sie folterten und vergewaltigten Menschen - und gäben den Opfern die Schuld. "Sie haben Hunderttausende ihrer eigenen Terroristen hierher gebracht, auf ukrainischen Boden, um gegen uns zu kämpfen, und es kümmert sie nicht, was in ihrem Land geschieht."

Video: Was bisher bekannt ist:

„Wir trauern“

Putin hatte für Sonntag einen Staatstrauertag ausgerufen. In ganz Moskau waren auf Plakatwänden das Bild einer einzelnen Kerze, das Datum des Anschlags und die Worte „Wir trauern“ zu sehen. Auch in anderen Städten legten die Menschen Blumen nieder. Putin entzündete am Sonntagabend in einer Kirche an seinem Wohnsitz außerhalb Moskaus eine Kerze zum Gedenken an die Verstorbenen an, wie sein Sprecher der Nachrichtenagentur Interfax mitteilte. Im Ausland schlossen sich Serbien und Nicaragua mit eigenen Trauertagen dem Gedenken an.

Wladimir Putin schloss sich dem kollektiven Gedenken an die Verstorbenen an
Wladimir Putin schloss sich dem kollektiven Gedenken an die Verstorbenen an © IMAGO / Mikhail Metzel

In einem Video, das von russischen Medien und Telegram-Kanälen mit engen Verbindungen zum Kreml veröffentlicht wurde, sagte einer der festgenommenen Tatverdächtigen, dass ihm Geld für den Anschlag angeboten worden sei. Ein anderer Mann wurde gezeigt, wie er Fragen durch einen tadschikischen Übersetzer beantwortete.

Hauptverdächtige werden verhört

Zu dem Anschlag auf die ausverkaufte Konzerthalle mit über 6.000 Plätzen bekannte sich die Extremisten-Organisation IS. Dabei soll es sich um den afghanischen IS-Ableger, den IS „Provinz Khorasan“ (ISPK bzw. engl. ISKP), handeln. Sollte es sich tatsächlich um IS-Attentäter handeln, so war unklar, warum die Extremistengruppe diesen Zeitpunkt dafür wählte. Putin hatte die Islamisten bereits 2015 ins Visier genommen, als er mit russischen Truppen in den syrischen Bürgerkrieg eingriff, um Präsident Bashar al-Assad im Kampf gegen Oppositionsgruppen und die IS-Miliz zu unterstützen.

Allerdings gab es auch zuvor schon immer wieder Anschläge in Russland. Ende Dezember 2013 - weniger als zwei Monate vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Sotschi - töteten zwei Selbstmordattentäter auf einen Bahnhof und einen Oberleitungsbus in Stadt Wolgograd 34 Menschen. Im September 2004 waren tschetschenische Extremisten in eine Schule im südrussischen Beslan eingedrungen. Sie brachten etwa 1.100 Kinder, Eltern und Lehrer in ihre Gewalt, die den Beginn des neuen Schuljahres feierten. Nach dreitägiger Belagerung beendeten Sicherheitskräfte die Geiselnahme gewaltsam. Insgesamt starben nach amtlichen Angaben mehr als 330 Menschen, darunter 180 Kinder. 2002 hatten tschetschenische Rebellen in einem Moskauer Musical-Theater Hunderte Menschen drei Tage lang als Geiseln festgehalten. Bei der gewaltsamen Befreiungsaktion russischer Spezialeinheiten waren damals 129 Geiseln und 41 Rebellen ums Leben gekommen.

Die vier Hauptverdächtigen des Terroranschlags wurden am Samstagabend zum Verhör in die russische Hauptstadt gebracht. Wie die Staatsagentur Tass weiter berichtete, waren die vier Männer in einer streng abgesicherten Wagenkolonne aus der Region Brjansk im Süden des Landes, wo sie festgenommen worden waren, zum sogenannten Ermittlungsausschuss gefahren worden. In den kommenden Tagen solle vor Gericht ein Antrag auf Haftbefehl gestellt werden. Ihnen allen drohe eine lebenslange Haftstrafe, hieß es bei Tass. Nach dem Anschlag waren elf Verdächtige festgenommen worden.

Zig Tote und mehr als hundert Verletzte bei Attentat:

Identifizierung der Opfer geht weiter

Forensiker setzten unterdessen die Identifizierung der Opfer fort. Bis Samstagabend seien bereits 50 Opfer identifiziert worden, teilte Gouverneur Andrej Worobjow mit. Viele Menschen in der Konzerthalle seien bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, hieß es. Knapp 4000 Menschen spendeten bis zum Abend Blut, um die ärztliche Behandlung der Verletzten zu erleichtern. Die Behörden sprachen von mindestens 147 Verletzten, viele von ihnen in kritischer Verfassung.

Die Aufräum- und Bergungsarbeiten in der schwer beschädigten Konzerthalle in Krasnogorsk nordwestlich von Moskau sollten nach Angaben von Gouverneur Worobjow mindestens bis Sonntagabend andauern. Die Halle war während des Anschlags in Brand geraten und größtenteils zusammengestürzt. Letzte Glutnester wurden am Samstagnachmittag gelöscht, Mitarbeiter des russischen Zivilschutzes konnten daraufhin mit dem Abtragen von Trümmern beginnen. Unter den Trümmern könnten sich noch weitere Leichen befinden.