Nach dem Anschlag auf Besucher einer Konzerthalle bei Moskau ist die Zahl der Todesopfer deutlich gestiegen. Die staatliche Ermittlungskomitee sprach am Samstag von mindestens 115 Toten, im Staatsfernsehen war wenig später bereits von 143 Toten die Rede. Der Kreml vermeldete die Festnahme von elf Personen im Zusammenhang mit dem tödlichsten Anschlag in Russland seit 20 Jahren. Darunter seien auch die vier mutmaßlichen Attentäter.

Diese waren nach Angaben des Inlandsgeheimdienstes FSB auf dem Weg zur ukrainischen Grenze, als sie gefasst worden seien. Auf der ukrainischen Seite hätten sie über Kontakte verfügt. Belege für eine Verbindung in die Ukraine, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren Krieg führt, wurden jedoch zunächst nicht präsentiert. Die radikale Miliz Islamischer Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich.

Ermittler hätten zudem Waffen und Munition in dem Gebäude sichergestellt. Das zeigte ein kurzes Video, das vom Staatlichen Ermittlungskomitee Russlands am frühen Samstagmorgen veröffentlicht wurde. Zu sehen waren eine Maschinenpistole vom Typ Kalaschnikow und Gurte voller Magazine. Säckeweise sammelten die Ermittler die Hülsen verschossener Patronen ein.

Menschen legen Blumen ab, um der Opfer nach dem Terroranschlag zu gedenken
Menschen legen Blumen ab, um der Opfer nach dem Terroranschlag zu gedenken © IMAGO / Alexei Konovalov

Die Opfer des Anschlags seien bis zum Samstagmorgen alle aus dem Gebäude gebracht worden, meldete die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf einen Korrespondenten am Ort des Geschehens.  Bewaffnete in Tarnkleidung eröffneten am Freitag mit automatischen Waffen das Feuer auf die Menschenmenge in der Konzerthalle „Crocus City Hall“. Sie sollen zugleich Brandbomben und Granaten geworfen haben, es gab Explosionen.

Totenzahl wird voraussichtlich weiter steigen

In Moskau bildeten sich am Samstagmorgen lange Schlangen von Menschen, die Blut spenden wollten. Mehr als 120 Menschen wurden bei dem Angriff nach Angaben der Gesundheitsbehörden verletzt. Das Ermittlungskomitee erklärte, dass die Totenzahl voraussichtlich weiter steigen werde. Es setzte sie bei 115 an. Kurz darauf war vonseiten des staatlichen TV-Senders RT bereits von 143 Toten die Rede - allerdings ohne Nennung von Quellen.

Angreifer flohen in Renault

Nach Angaben des russischen Parlamentsabgeordneten Alexander Chinschtein flohen die Angreifer in einem Renault, der von der Polizei in der Region Brjansk etwa 340 Kilometer südwestlich von Moskau Freitagabend entdeckt wurde. Nach einer Verfolgungsjagd seien zwei Personen festgenommen worden. Die anderen beiden seien zu Fuß in einen Wald geflohen. Sie wurden aber offenbar später auch festgenommen. Chinschtein zufolge wurden in dem Auto eine Pistole, ein Waffenmagazin, und tadschikische Pässe gefunden. Tadschikistan ist ein überwiegend von Muslimen bewohnter Staat in Zentralasien, der einst zur Sowjetunion gehörte.

Ungeachtet der Beteuerungen aus Kiew, in den Anschlag nicht verwickelt zu sein, forderte der einflussreiche russische Parlamentarier Andrej Kartapolow eine deutliche und konkrete Reaktion auf dem Schlachtfeld, sollte sich das Gegenteil herausstellen. Russland startete seinen Krieg gegen die Ukraine im Februar 2022. Zuletzt waren vermehrt auch Angriffe von ukrainischem Gebiet aus auf russisches Territorium gemeldet worden.

Zig Tote und mehr als hundert Verletzte bei Attentat:

Bekennerschreiben des IS

Die Terrormiliz Islamischer Staat hat den Anschlag für sich reklamiert, wie das IS-Sprachrohr Amak am Freitag im Internet unter Berufung auf nicht näher genannte Quellen meldete. IS-Kämpfer hätten „eine große Zusammenkunft (. . .) am Rande der russischen Hauptstadt Moskau“ angegriffen. Experten gehen davon aus, dass dieses Bekennerschreiben echt ist.

Am Freitagabend gab es Behördenangaben zufolge Schüsse und Explosionen in der Veranstaltungshalle. Mehrere Unbekannte in Kleidung in Tarnfarben hätten die Crocus City Hall kurz vor einem Konzert der Rockgruppe Piknik gestürmt und das Feuer eröffnet, teilte die russische Generalstaatsanwaltschaft mit. Bei den Opfern soll es sich russischen Medien zufolge sowohl um Mitarbeiter als auch um Besucher der Konzerthalle handeln. Westliche Botschaften hatten zuletzt vor Terroranschlägen in Moskau gewarnt. Der Kreml hatte dies als Provokation des Westens bezeichnet und kritisiert nun, dass genauere Informationen nicht mit Russland geteilt wurden.

Gebäude in Flammen

Feuerwehrleute kämpften über Stunden gegen ein Feuer in dem riesigen Gebäude, das auf fast 13.000 Quadratmetern Fläche brannte. Nachdem es zunächst geheißen hatte, das Feuer sei unter Kontrolle, zeigten sich morgens erneut offene Flammen, wie Tass meldete. Sie schlugen aus dem Gebäudeinneren und waren auf dem Dach klar zu sehen. Die Feuerwehr löschte mit Wasser von außen. Löschhubschrauber, die anfangs im Einsatz waren, seien aber abgezogen worden.  Das Dach soll eingestürzt sein. Dutzende Rettungswagen waren im Einsatz und viele Busse, um Menschen in Sicherheit zu bringen. Die Lage war über Stunden unübersichtlich. Das russische Gesundheitsministerium sprach von 145 Verletzten, zu denen auch Kinder zählten. 115 von ihnen seien in Krankenhäuser gebracht worden. Etwa 60 Erwachsene seien schwer verletzt.

Schüsse und Schreie

Auf X, vormals Twitter, kursieren Videos aus der Halle, Schüsse und laute Schreie sind zu hören, man sieht Menschen, die verzweifelt versuchen, sich zu verstecken. Panisch drängen sich die Besucher zu den Ausgängen, auf der Flucht vor den Angreifern. Immer wieder sind Schüsse zu hören. „Ich bin in den Keller geflüchtet und habe mich versteckt, bis mich die Sicherheitsleute holten“, erzählt ein geschockter Besucher später auf einem Video.

In der Crocus City Hall gibt es mehrere Veranstaltungssäle, die auch für Messen genutzt werden. Es ist eine der beliebtesten Freizeitstätten für die Moskauer und die Menschen im Umland der russischen Hauptstadt. Immer wieder sind dort auch Stars aufgetreten.

Russlands Präsident Wladimir Putin ließ sich nach Kremlangaben „seit der ersten Minute“ über die Geschehnisse informieren. Er erhalte über die entsprechenden Dienste ständig alle wichtigen Informationen über das Geschehen und die eingeleiteten Maßnahmen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge.

Die US-Botschaft in Moskau hatte zuletzt vor unmittelbar bevorstehenden Anschlägen gewarnt. Hintergrund war das Ausheben von zwei Terrorzellen des „Islamischen Staates“ (IS), bei dem laut „NZZ“ mehrere Menschen getötet worden sein sollen. Die Zellen sollen Anschläge auf Synagogen in Moskau geplant haben. Damals hatte die US-Botschaft eine diesbezügliche Warnung ausgesprochen, die am 8. März unter anderem auch vom österreichischen Außenministerium übernommen worden war. Putin hatte seinerseits am Dienstag „provokative Erklärungen einer Reihe von offiziellen westlichen Strukturen“ über einen möglichen Terroranschlag in Russland heftig angeprangert. „All das erinnert an offene Erpressung und die Absicht, Angst zu verbreiten und unsere Gesellschaft zu destabilisieren“, hatte er ausgerechnet vor den Spitzen des für Terrorbekämpfung verantwortlichen Inlandsgeheimdiensts FSB erklärt.

„Blutiges terroristisches Attentat“

Die Chefin des Föderationsrats, dem Oberhaus des russischen Parlaments, Valentina Matwijenko, drohte den Drahtziehern des Anschlags mit Vergeltung. „Diejenigen, die hinter diesem fürchterlichen Verbrechen stehen, werden die verdiente und unausweichliche Strafe dafür erhalten“, schrieb sie auf ihrem Telegram-Kanal. Der Staat werde zugleich alles tun, um den Hinterbliebenen zu helfen, kündigte sie an.

Das russische Außenministerium nannte die Attacke ein „blutiges terroristisches Attentat“: „Die gesamte Weltgemeinschaft muss dieses verabscheuungswürdige Verbrechen verurteilen“, schrieb Ministeriumssprecherin Maria Sacharowa Freitagabend auf Telegram.  Russlands zentrales Ermittlungskomitee nahm unterdessen ein Verfahren wegen eines mutmaßlichen Terrorakts auf. Das teilte die Behörde auf Telegram mit.

Die Witwe des verstorbenen russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny, Julia Nawalnaja, sprach den Familien der Opfer ihre Anteilnahme aus. Nawalnaja lebt im Exil. Ihr Mann, einst scharfer Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin, war erst vor wenigen Wochen in einem russischen Straflager gestorben.

Als Konsequenz des Anschlags bleiben am Wochenende alle Theater und Museen in Moskau geschlossen, darunter weltberühmte wie die Tretjakow-Galerie und das Puschkin-Museum. Zuvor hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin gesagt, dass alle Großveranstaltungen in Europas größter Stadt abgesagt seien. Auch im Moskauer Umland sagten die Behörden Massenveranstaltungen ab.

Keine Verwicklungen der Ukraine

Das ukrainische Außenministerium wies den Verdacht einer ukrainischen Verwicklung zurück. Die USA mahnten in einer ersten Reaktion ebenfalls an, keinen Zusammenhang mit der Ukraine herzustellen. „Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Ukraine oder Ukrainer mit den Schüssen zu tun hatten“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby, in Washington. Man könne noch nicht viel zu den Details mitteilen, rate aber zu diesem frühen Zeitpunkt eindringlich von der Annahme ab, dass es eine Verbindung zur Ukraine gebe. Das US-Außenministerium riet amerikanischen Staatsbürgern vor Ort, große Menschenansammlungen zu meiden.

Das russische Außenministerium hat kritisiert, dass die USA sehr schnell die Ukraine als möglichen Drahtzieher des Anschlags auf die Moskauer Konzerthalle entlastet haben. Es werfe Fragen auf, wenn die USA bereits solche Schlussfolgerungen zögen, während die Tragödie noch im Gang sei. Das sagte die Sprecherin des Ministeriums, Maria Sacharowa, am Freitagabend im russischen Fernsehen. „Wenn die USA oder ein anderes Land verlässliche Fakten haben, sollten sie diese der russischen Seite zukommen lassen.“ Wenn es solche Fakten nicht gebe, hätten weder das Weiße Haus noch sonst jemand das Recht, vorab eine Absolution zu erteilen, sagte Sacharowa.

Weltweite Betroffenheit

Der Anschlag von Moskau löste erwartungsgemäß international Betroffenheit aus - nicht nur von erwarteter Seite. „Wir verurteilen den schrecklichen Terrorangriff auf unschuldige Konzertbesucher in Moskau“, erklärte etwa der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz auf X. Aber auch die Taliban meldeten sich mit einer Verurteilung des Attentats.

Es sei eine „koordinierte, klare und entschlossene Haltung“ der Länder in der Region gegen Terror erforderlich, schrieb der Sprecher des Taliban-Außenministeriums, Abdul Kahar Balchi, am Samstag, ebenfalls auf X. Der IS ist mit einem regionalen Ableger auch im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan aktiv und steht im Konflikt mit den islamistischen Taliban, die bei ihrer erneuten Machtübernahme vor zweieinhalb Jahren Sicherheit versprochen hatten.

Balchi bezeichnete den IS als eine Gruppe „in den Händen von Geheimdiensten, die darauf abzielt, den Islam zu diffamieren“. Erst am Donnerstag hatte die Terrormiliz einen Anschlag in der südafghanischen Stadt Kandahar für sich reklamiert. Die Stadt gilt mit dem Wohnsitz des Taliban-Führers Haibatullah Achundsada als religiöses und politisches Machtzentrum.

„Abscheulicher terroristischer Akt“

Auch die Europäische Union verurteilte den Angriff. Die EU sei schockiert und entsetzt, schrieb EU-Kommissionssprecher Peter Stano auf der Plattform X (früher Twitter). Die EU verurteile jegliche Angriffe auf Zivilisten. „Unsere Gedanken sind bei allen betroffenen russischen Bürgern.“ UN-Generalsekretär António Guterres und der UN-Sicherheitsrat verurteilten den Anschlag ebenfalls.

Großbritanniens Außenminister David Cameron sprach den betroffenen Familien sein Beileid aus. „Nichts kann jemals solch schreckliche Gewalt rechtfertigen“, schrieb Cameron auf X.

„Der grausame Terroranschlag in Moskau muss auf das Schärfste verurteilt werden“, erklärte der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella in einer Presseaussendung. Auch Ministerpräsidentin Giorgia Melon schrieb vom „Horror des Massakers von unschuldigen Zivilisten“ als einem „abscheulichen terroristischen Akt. Wie sie sprach auch Außenminister Antonio Tajani den Familien der Opfer sein Mitgefühl aus.

2002 hatten tschetschenische Bewaffnete 850 Menschen in einem Musical-Theater in ihre Gewalt gebracht. Am vierten Tag des Dramas betäubte der Inlandsgeheimdienst die Geiselnehmer und die Geiseln mit einem Gas. Die Terroristen wurden erschossen. 135 Geiseln kamen ums Leben, die meisten von ihnen durch unzureichende medizinische Versorgung.