„Bei einer Essstörung gibt es immer zwei Bereiche – einen vor dem Vorhang und einen hinter dem Vorhang“, erklärt Nina Cameron. Die Psychiaterin hat die Essstörungsambulanz am LKH Graz II, Standort Süd aufgebaut und leitet sie auch. Vor dem Vorhang dieser psychischen Erkrankungen befinden sich die offensichtlichen Themen, mit welchen sich die Betroffenen beschäftigen: Gewicht, Kalorien, Esspläne. Das Eigentliche aber befindet sich hinter dem Vorhang, sagt Cameron in der neuen Episode unseres Medizin-Podcasts „Ist das gesund?“. Dort müsse man in der Therapie hinschauen, um zu klären: „Was waren die Auslöser, weswegen habe ich die Essstörung bekommen?“

Essstörungen sind psychische Erkrankungen, die aber auch den Körper krank machen können. Es gibt drei große Formen von Essstörungen: Anorexia nervosa, Bulimia nervosa sowie die Binge-Eating-Störung (siehe Faktenbox). Schätzungen zufolge erkranken rund 200.000 Menschen in Österreich im Laufe ihres Lebens an einer solchen Essstörung. Während der letzten Jahre ist die Zahl der Betroffenen gestiegen, vor allem im Nachhall der Coronavirus-Pandemie. „Man kann davon ausgehen, dass Essstörungen sich seit der Pandemie um rund ein Drittel gesteigert haben. Und das tatsächlich nicht nur im Jugend-Bereich.“ Zwar ist der erste große Gipfel in Bezug auf Anorexie und Co. im Alter zwischen zehn und 13 Jahren, ein zweiter folgt aber im Alter zwischen dem 18. und 19. Lebensjahr. „Es gibt auch viele Erwachsene, die unter diesen Erkrankungen leiden, die vielleicht eine erste Phase in ihrer Kindheit bzw. Jugend hatten“, erklärt Cameron. Eine Essstörung kann sich demnach auch chronifizieren, Cameron berichtet von manchen Patientinnen im Alter von 60 Jahren. „Diese Betroffenen leben mit dieser Erkrankung, sie haben mal schlechtere, mal bessere Phasen.“

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Essen nur unter strengem Regelwerk

„Eine Essstörung liegt dann vor, wenn das Essverhalten pathologisch ist“, erklärt die Expertin. Das bedeutet, wenn alle Themen rund ums Essen enorm viel Raum einnehmen, wenn man nicht spontan, nach dem Hunger- oder Sättigungsgefühl, Nahrung zu sich nehmen kann, sondern wenn ein gewisser Zwang damit verbunden ist.  „Wenn man sehr wenig isst, Essen weglässt, an Gewicht abnimmt, bezüglich Essen ganz strenge Regeln aufstellt.“, ergänzt Cameron.

Diese Regeln, welche die Betroffenen aufstellen, sie geben eine gewisse Sicherheit, wenn sie über andere Bereiche ihres Lebens nur mehr wenig Kontrolle haben. Für Außenstehende ist das oft schwer zu verstehen, aber die Essstörung wird zu einer ständigen Begleiterin. „Kalorienzählen, Kochrezepte, Wiegen, Nicht-Essen, da hat nicht mehr viel anderes Platz“, sagt Cameron. Hinzukomme, dass mit der Gewichtsreduktion auch die Intensität von Gefühlen abnimmt. „Eine Essstörung hat oft auch ganz viel Schützendes – blöderweise“, sagt Cameron.

Aus diesem Grund ist es in der Therapie essenziell „hinter den Vorhang“ zu blicken, die Ursachen einer Anorexie oder einer Bulimie zu ergründen. Wobei es äußerst selten nur einen einzigen Auslöser gibt, denn Essstörungen sind multifaktorielle Erkrankungen. Ein Faktor kann eine genetische Vorbelastung sein, auch Frauen haben ein höheres Risiko zu erkranken. Denn gerade die Zeit der Pubertät, in der sich der Körper von Mädchen so anders zu jenem von Buben entwickelt, kann ein Trigger sein. Auch verschiedene Traumata können bei der Entstehung einer Essstörung eine Rolle spielen. Und schließlich sollte auch der Faktor Social Media nicht vernachlässigt werden: „Vor allem in Bezug auf Frauen wird hier eine gewisse Körperform als Ideal beworben“, sagt Cameron. Und schließlich ist auch die Verbindung zwischen Essen und Emotionen ein Risikofaktor. Wurde das Essen schon von klein auf mit Emotionen verbunden – sei es als Bestrafung oder Belohnung? „Essen sollte eigentlich frei von Emotionen bleiben“, rät die Expertin.

Essstörungen: Auf welche Anzeichen man achten sollte

Hinweise auf Essstörungen kann natürlich das Gewicht geben, verliert eine Person sehr rasch eine große Menge an Gewicht, kann das ein Indiz sein. „Bei Kindern und Jugendlichen ist es auch, dass sie zwar wachsen, aber nicht zunehmen“, präzisiert die Psychiaterin. Aber eine Essstörung geht normalerweise auch mit einer Verhaltens- und Wesensänderung  einher. „Betroffene sind nicht mehr so sozial eingebunden, sie ziehen sich zurück“, weiß Cameron. Freunde werden etwa weniger wichtig, oder die Betroffenen nehmen nicht mehr an gemeinsamen Essen teil.

Nina Cameron rät, sich im Fall des Falles so schnell wie möglich professionelle Unterstützung zu holen
Nina Cameron rät, sich im Fall des Falles so schnell wie möglich professionelle Unterstützung zu holen © privat

Doch wie spricht man den Elefanten im Raum an, wenn man als Angehöriger, als Elternteil einen Verdacht hat? Direkt, aber mit viel Empathie und Zuwendung, rät Cameron. „Man könnte sagen ‚Mir ist da etwas aufgefallen, vielleicht magst du mir erzählen, wie es dir damit geht‘“, erzählt die Psychiaterin. Danach geht es darum, so rasch wie möglich professionelle Unterstützung zu holen, Anlaufstellen gibt es mittlerweile einige (siehe Infobox). Denn, wie bei vielen anderen Erkrankungen auch, ist es leichter, den Betroffenen zu helfen, wenn die Essstörung noch nicht so weit fortgeschritten ist. Und dennoch ist eine Heilung bei Anorexie und Co. nichts, was über Nacht passieren kann.

Am besten können Angehörige Betroffene unterstützen, wenn sie sie nicht auf die Essstörung reduzieren, denn diese ist nur ein Teil dieser Person. „Über Gefühle sprechen, Gefühle zulassen, aber auch betonen, aber eben auch die anderen Teile, Gemeinsamkeiten, Vorlieben der betroffenen Person betonen“, sagt Cameron.