„Es ist wichtig, jetzt nicht allein zu sein“, nicht nur die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr betonte die Notwendigkeit von Zusammenhalt und Fürsorge für Mitmenschen im unmittelbaren Nachhall eines so dramatischen Erlebnisses wie dem Amoklauf am BORG Dreierschützengasse. Doch eine Tat wie jene in Graz ist meist nicht nach ein paar Tagen vergessen und vor allem: Jeder Mensch verarbeitet solche Ereignisse anders, in unterschiedlicher Intensität, in einer unterschiedlichen Zeitspanne. „Grundsätzlich ist es ganz normal, dass wir als Menschen auf solch dramatische Ereignisse wie in Graz mit starken Emotionen reagieren, mit Konzentrationsschwäche, mit Angespanntheit, auch mit Wiedererleben der Situation“, erklärt Paul Plener. Das sei eine akute Belastungsreaktion, erklärt der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien.

Auswirkungen kann ein Amoklauf wie jener in Graz aber eben nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen haben, sondern auch auf jene, die nicht direkt anwesend waren. „Auch von meinen Patienten, die Schüler sind, da haben viele Bekannte in dieser Schule, oder haben jemanden um ein paar Ecken gekannt und das macht auch sie zu Betroffenen.  Manche haben auch jetzt Ängste, wie zum Beispiel ‚kann ich überhaupt noch in die Schule gehen‘“, sagt Isabel Böge, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Medizinische Psychologie am LKH Graz II, Standort Süd. „Sehr häufig zeigt sich, dass die Symptome nach ein, zwei Wochen nach dem belastenden Ereignis weniger werden“, erklärt Plener. Man könne den Alltag wieder besser bewältigen, müsse nicht mehr so häufig an das Geschehene denken.

Isabel Böge: „Tun wir das Geschehene ab, fühlt sich das Kind mit seinen Gefühlen völlig falsch“
Isabel Böge: „Tun wir das Geschehene ab, fühlt sich das Kind mit seinen Gefühlen völlig falsch“ © KLZ/Miedl-Rissner

Nicht bei allen wird sich die neue Normalität einstellen

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Doch, nicht bei allen wird sich diese neue Normalität einstellen. Halten Symptome wie Ängste, Schlafstörungen, Reizbarkeit, schulmeidendes Verhalten, Depressionen, Trauerreaktionen, Gefühle des Betäubtseins, innerer Leere oder auch andere Veränderungen an, kann eine Anpassungsstörung oder eine posttraumatische Belastungsstörung die Ursache sein. „Das sind alles kleine Warnsignale, die als Einzelnes nicht so schlimm sind, aber wenn zwei, drei zusammenkommen, dann sollte man hinhören“, rät Böge.

Wie kann man aber Menschen helfen, die es schwer haben, mit dem Erlebten fertig zu werden? Für sie da sein, mit ihnen sprechen, rät Psychiater Plener. Allerdings gibt er zu bedenken, nicht jeder Mensch wolle sich sofort mitteilen. „Man sollte dann signalisieren, dass man für die Person da ist, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.“ Und wenn jemand gar nicht sprechen möchte, helfe es, Dinge aufzuschreiben oder aufzuzeichnen, um Erlebtes zu verarbeiten. „Im Moment, in dem ich als Elternteil beginne, mir Sorgen zu machen, sollte ich ärztliche Unterstützung suchen“, rät Böge. Aber: „Jetzt, in den ersten ein bis zwei Wochen, darf alles sein. Wenn man aber das Gefühl hat, dass es eher schlechter als besser wird, dann würde ich raten ganz niederschwellig bei uns vorbeischauen.“

Eigene Emotionen zulassen und auch zugeben

In den Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen ist Ehrlichkeit wichtig, auch zuzugeben, dass die Situation für uns als Erwachsene ebenso schwierig zu verstehen ist. „Tun wir das Geschehene ab, fühlt sich das Kind mit seinen Gefühlen völlig falsch“, sagt Böge. Und man darf als Elternteil auch einmal antworten „ich weiß es nicht“. In Situationen wie diesen können zudem Routinen hilfreich sein, denn „die vorhersagbaren Routinen des Alltags helfen, dem Gefühl des Kontrollverlusts, sowie der Unberechenbarkeit entgegenzusteuern. Alltag gibt Halt.“, erklärt Böge. „Aus diesem Grund würde auch die rasche Aufnahme des Schulbetriebs sinnvoll sein, auch wenn das aktuell kaum denkbar scheint.“

Hinzu kommt, dass Kinder, auch wenn sie nicht Schüler des BORG Dreierschützengasse sind, mit den Geschehnissen via Social Media und Messenger-Diensten konfrontiert werden. Auch hierüber, über den Umgang mit solchen Inhalten, sollte man mit Kindern und Jugendlichen sprechen. „Eine Social-Media-Pause kann eine Möglichkeit sein, sich in Whatsapp-Gruppen aktiv zu entscheiden, Fotos und Videos nicht anzuschauen, eine andere“, sagt Plener.

Paul Plener
Paul Plener: „Man kann die Erinnerungen nicht löschen, aber man kann lernen, diese Erinnerungen so zu integrieren, dass sie das Leben nicht bestimmen“ © Meduni Wien/feelimage

Sucht man ärztlichen Rat, etwa in der Sondersprechstunde der KJP-Ambulanz (siehe Faktenbox) können zu Beginn schon kleinere therapeutische Maßnahmen helfen, einen anderen Blickwinkel auf die Geschehnisse zu erlangen. Sollte dennoch eine posttraumatische Belastungsstörung entstehen, laufe die Therapie in drei Phasen ab, erklärt Böge. Zuerst gehe es darum, den Patienten zu stabilisieren, in weiterer Folge geht es um sogenannte Trauma-Exposition, hier braucht es oft nur wenige Sitzungen. „Es geht darum, den Hotspot, der die posttraumatischen Belastungsreaktion bedingt, zu finden und gemeinsam anzusehen. Bei jenen Kindern, die das im Klassenraum wirklich miterlebt haben, können das zum Beispiel Bilder aus dem Raum sein“, sagt die Expertin. Diese Hotspots werden besprochen, bearbeitet, um in weiterer Folge die Ereignisse wieder erzählbar und in den Alltag integrierbar zu machen und am Ende sagen zu können: „Das ist passiert, es war schrecklich, alle Menschen fanden das schrecklich. Aber: Mein Leben geht weiter.“ Traumatherapie sei in vielen Fällen erfolgreich, betont auch Plener. „Man kann die Erinnerungen nicht löschen, aber man kann lernen, diese Erinnerungen so zu integrieren, dass sie das Leben nicht bestimmen.“