Im Frühjahr reden in Grado alle über den Strand. Er wirkt wie ein lebendiges Wesen, das mit seinen warmen, körnigen Armen die Insel liebkost, aber auch Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten einfordert. Und es ist ja verständlich, denn was wäre das Leben ohne ihn? Also wird er begutachtet, bemuttert, gepflegt, geharkt, gesäubert. Und verteidigt, so gut es geht.

Deswegen ist das Hochwasser, das jeden dritten, vierten Winter kommt wie ein Dieb in der Nacht, unser Feind. Denn es raubt uns den Sand, und zwar ausgerechnet am Hauptstrand. Zuletzt, Ende 2023, waren es 30.000 Kubikmeter. Kann sich diese Menge jemand vorstellen? Natürlich nicht. Also fragte ich nach: Ein normaler Lastwagen kann elf Kubikmeter Sand transportieren. Das Hochwasser hatte also etwa die Wucht und Wirkung von 2700 nächtlich angerückten Lastwagen.

Aber Grado hat auch Glück. Denn der alte Strand liegt im Gegensatz zum Hauptstrand günstig und wächst seit Jahrzehnten beinahe ungezügelt. Noch in den 1950ern schlugen die Wellen direkt an die Uferbefestigung, inzwischen ist der Strand mehr als 100 Meter breit.

Sand wird es in Grado immer geben

Was also passiert im Frühjahr, ganz einfach und unbürokratisch? Der Sand, den das Hochwasser im Herbst am Hauptstrand klaut, wird vom alten Strand, wo sich in den letzten Jahrzehnten abertausende Kubikmeter angesammelt haben, abgebaggert und am Hauptstrand aufgeschüttet. Sand wird es in Grado immer geben. Auch wenn manchmal ordentlich umgetopft werden muss.

Stefan Maiwald am Strand
Stefan Maiwald am Strand © KK

Das Schöne am Frühling ist der Duft nach frischer Farbe, Meer und Optimismus. Aufbruchstimmung überall. Vorfreude auf den Sommer und die zu erwartenden Einnahmen. Daher wird gefegt, entrümpelt, gestrichen, gehämmert, genagelt und geflext. Blumen werden gepflanzt, Hecken gestutzt, Markisen gereinigt. Hebebühnen werden von brummenden Generatoren emporgehievt, damit Maler die Balkone streichen können.

3500 Sonnenschirme

Am Strand werden die Badekabinen aufgestellt und die Halterungen für die Sonnenschirme in den Boden gedrillt. Wie viele Sonnenschirme und Sonnenschirmständer es sind? Allein am Hauptstrand etwa 3500. Mindestens noch einmal die gleiche Zahl am alten Strand und am Pineta-Strand.

Um nach Grado zu gelangen, fahren Reisende – aus Richtung Udine kommend – fünf Kilometer lang auf einem Autodamm durch die Lagune, links und rechts das Wasser, beinahe endlos, es ist wie ein fliegender Teppich übers tiefe Blau, während die Silhouette von Grado mit seinen eineinhalb bausündigen Wolkenkratzern immer näher heranrückt. Auf dem Autodamm lasse ich, egal wie kühl es ist, die Fensterscheiben runtersurren. Und sofort bin ich am Meer, obwohl ich noch gar nicht da bin.

Eine Fahrt wie eine Zeitreise

Es ist nicht nur der Duft, sondern auch die schwerere, feuchtere Luft, die sich sofort im Innenraum ausbreitet. Der Duft und die Luft evozieren Erinnerungen an unbeschwerte Kindheit, an erste salzige Küsse, an Eltern, die vielleicht nicht mehr da sind. Die Fahrt nach Grado ist das Nächste, was an eine Zeitreise herankommt – eine Zeitreise, die nach fünf Kilometern in eine Welt mündet, die besser zu sein verspricht als jene, die im Rückspiegel immer kleiner wird.  

 Drei von vier Reisenden weltweit verbringen ihren Urlaub am Wasser
 Drei von vier Reisenden weltweit verbringen ihren Urlaub am Wasser © Stefan Maiwald

Es ist noch Frühjahr, und trotzdem träumen sich alle an den Strand. Drei von vier Reisenden weltweit verbringen ihren Urlaub am Wasser – an Flüssen und Seen, aber vor allem am Meer. Interessant ist der sprachliche Unterschied: Wir fahren in die Berge, aber ans Meer. Denn tatsächlich verbringen wir nahezu unsere gesamte Urlaubszeit an der See und sind nie für längere Zeit im Wasser. Wir sind distanzierte Beobachter. Wir sind Landbewohner, der Strand ist die letzte Grenze in Richtung Unbewohnbarkeit. Das Meer ist nicht das unmittelbare Ziel. Das Ziel ist der Blick aufs Meer. Das Rauschen der Wellen. Der Duft des Salzwassers. Genauer gesagt: Unser Ziel ist der Strand.

Der Duft eines Strandtages

Das Leben am Strand bietet für alle Sinne etwas. Menschen beschweren sich über krähende Hähne, bellende Hunde, dröhnende Kirchenglocken. Aber das Meeresrauschen, so ohrenbetäubend es auch sein mag, genießen wir. Es ist eine Geräuschkulisse, die wir herbeisehnen. Der heiße Sand, in dem wir unsere Hände abstützen oder auf dem wir barfuß von Schatten zu Schatten hasten – oder die feuchten Kiesel unter den Füßen, auf denen wir ins Wasser balancieren. Und erst der Duft eines Strandtages! Die verlockende Kokosmilch, der aufgeheizte Stoff der Sonnenschirme, die nasse Badehose, das Plastik der Gummiboote. Die feuchten Handtücher, das schmelzende Wassereis und die aufweichende Druckerschwärze der in der Sonne liegenden Zeitung. Der Schlick, der Schnellbräuner zum Aufsprühen, die Piniennadeln.

Bald wird das Leben wieder langsamer
Bald wird das Leben wieder langsamer © Stefan Maiwald

Schon bald passt sich unser Körper und vor allem unser Geist dem Leben am Strand an. Immer ungezwungener und immer gebräunter bewegen wir uns in der Strandbekleidung umher. Das Leben wird langsamer, auf natürliche Weise ausgebremst von unseren schwerfälligen Schritten im nachgiebigen Sand. Eine Freiheit von Zwang, von einengender Kleidung. Endlich durchatmen. Die ungewohnte Körperlichkeit ist uns bald vertraut, der Alltag bleibt weit weg.

Der schönste und sicherste Ort der Welt

Wir springen vergnügt ins Wasser, tauchen unter: Es ist eine tägliche Taufe. Wenn wir dann einmal im Meer sind, freuen wir uns und gruseln uns auch ein wenig. Wir genießen die Unendlichkeit, sie ist Faszinosum und Bedrohung zugleich. Wir sind Landwesen und der Kraft des Meeres völlig ausgeliefert. Der Strand wird zum sicheren Ort. Zur Basis und zum Ausguck. Zum Boden unter den Füßen. Es ist der schönste und vor allem sicherste Ort der Welt.