Wahlweise war von Kritikern von einem "Sündenfall" oder überhaupt von einem "der größten Fehler in der Geschichte der Europäischen Zentralbank" (EZB) die Rede. Warum haben die Währungshüter um die französische EZB-Präsidentin Christine Lagarde so spät auf die steigende Inflation im Euro-Raum reagiert?

Es lohnt sich ein Blick zurück: Vor einem Jahr, Anfang Februar 2022, waren Europas Währungshüter bereits mit einer Inflationsrate von fünf Prozent konfrontiert, die Teuerung hatte sich zuvor – Monat für Monat – immer weiter von der EZB-Zielmarke von zwei Prozent entfernt. Die Energiepreise waren schon zuvor "überraschend stark gestiegen", wie es Lagarde damals ausdrückte. Man räumte zwar ein, dass die Teuerungsrate höher liege – und kurzfristig auch höher bleiben werde – als noch kurz zuvor prognostiziert. Die Leitzinsen blieben dennoch, wie bereits seit März 2016, bei null Prozent einbetoniert. Zinswende? "Wir sind noch nicht so weit", sagte Lagarde. Verbunden mit der Einschätzung, dass sich die Inflation "im Laufe des Jahres" wieder abschwächen werde. Diese Februar-Sitzung des Vorjahres war auch die letzte Zusammenkunft der Währungshüter vor der russischen Invasion in die Ukraine. Eine Zäsur, die aus dem Trend steigender Energiepreise endgültig eine Explosion werden ließ. Es folgten Teuerungsraten, die es in der Historie der Euro-Zone noch nie gegeben hatte.

Inflation in der Euro-Zone leicht rückläufig

Im Juli 2022 änderte auch die EZB – Monate nach der US-Notenbank Fed – ihren Zinskurs. Seither wurden die Leitzinssätze in vier Schritten auf mittlerweile insgesamt 2,5 Prozent angehoben. Am Donnerstag steht die erste Zinssitzung des neuen Jahres bevor, bereits am Mittwoch wurden die aktuellen Teuerungsdaten veröffentlicht, die Inflationsdynamik hat – zumindest in der Euro-Zone – abermals etwas abgenommen, die Inflationsrate liegt nun bei 8,5 Prozent. In Österreich hat die Inflation laut Schnellschätzung der Statistik Austria indes überraschend deutlich auf 11,1 Prozent zugelegt.

Die US-Notenbank Fed hat am Mittwoch den Leitzinssatz abermals angehoben, das Tempo aber verringert: Nach der Erhöhung um 0,25 Prozentpunkte liegt der Leitzins in der Spanne von 4,5 bis 4,75 Prozent.

"Doppelschlag" im Februar und März

Die Erwartungshaltung in Richtung EZB ist indes klar: Eine weitere Zinserhöhung um 0,5 Prozentpunkte galt zuletzt quasi als ausgemachte Sache. Damit wird der Leitzinssatz der Euro-Zone, erstmals seit dem Jahr 2008, wieder die Marke von drei Prozent erreichen. Im März wieder dann noch mit einem weiteren Zinssprung in dieser Höhe gerechnet.

Dass dieser "Doppelschlag" schon als weitgehend fix angenommen werden kann – und im Dezember auch so kommuniziert wurde, liegt nicht zuletzt an Lagarde und einem neuen Bemühen, die Geldpolitik zu erklären.
Nach den serienweisen Fehlprognosen der EZB, dem Zetern und Zaudern der Vergangenheit habe "Christine Lagarde, die Hocherfahrene, viel Dekorierte, Konsequenzen aus ihren Fehlern und der Kritik gezogen", analysierte jüngst das "Manager Magazin", das gar einen "fundamentalen Wandel" – von der Getriebenen, hin zu sanften Gestalterin – attestiert.
Als Lagarde, die am 1. Jänner 67 Jahre alt geworden ist, Ende 2019 den Italiener Mario Draghi an der Spitze der EZB beerbte, war von all den Turbulenzen, die folgen sollten, noch nichts zu sehen. Keine Pandemie, kein Krieg in Europa, keine Inflationsexzesse. Die "Grande Dame der internationalen Finanzwelt", wie Lagarde bereits 2011, bei ihrem Antritt als Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), betitelt worden war, hat in ihrer Karriere schon viele Premieren erlebt.

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Die auf Arbeits- und Kartellrecht spezialisierte Juristin war u. a. die erste weibliche Vorsitzende der renommierten und global agierenden Anwaltskanzlei Baker McKenzie, sie war ab 2007 die erste Finanzministerin Frankreichs, ab 2011 die erste IWF-Chefin – und dann ab 2019 die erste Frau an der Spitze der EZB. Die Reihen scheinen – derzeit – geschlossen. Zahlreiche Notenbankchefs der Euro-Zone, also Mitglieder des EZB-Rats, haben in den letzten Wochen den von Lagarde kommunizierten Kurs, vorerst weitere Zinsschritte im Ausmaß von 0,5 Prozentpunkten vornehmen zu wollen, unterstrichen.

"Kurs zu halten, ist mein geldpolitisches Mantra"

Auch Österreichs Notenbank-Gouverneur, Robert Holzmann, betonte schon vor zwei Wochen: Die Zinssätze müssten noch deutlich weiter steigen. Zwar schwäche sich der Anstieg der Teuerung ab, sie lag im Dezember mit 9,2 Prozent im Euroraum aber immer noch mehr als viermal so hoch wie das Inflationsziel der EZB, erinnerte Holzmann.

Vereinzelt werden mittlerweile aber auch Stimmen laut, die ein "graduelleres" Anheben der Zinsen als sinnvoll erachten. Etwa die Notenbankchefs von Italien und Griechenland. Die Zinserhöhungen dämpfen die Nachfrage und damit die fragile Wirtschaftsentwicklung. Zudem belasten sie die ohnehin angespannten staatlichen Haushalte in der Euro-Zone, da auch die Höhe der Zinszahlungen für den Schuldendienst markant nach oben gehen. Doch das – und über lange Zeit vernachlässigte – Mandat der EZB ist nun einmal die Preisstabilität.
"Kurs zu halten, ist mein geldpolitisches Mantra", betonte Lagarde erst in der Vorwoche.