Sie kennen Wladimir Putin seit Jahren. Sie teilen Anekdoten miteinander. Was will er?
CHRISTOPH LEITL: Sicherheit und Respekt.

Was will er nicht?
Bedrohung von außen.

Verlangt Putins Vorgehen in der Ukraine nach Respekt?
Wenn man es kurzfristig sieht: nein. Denn ein Aufmarsch, eine Umzingelung, das kann in niemandes Sinn sein, das würde ich auch nicht unterstützen. Ich sehe es als einen verzweifelten Aufruf mit der Botschaft: Bitte nehmt mich endlich ernst!

Ist es nicht eher eine Art Kriegserklärung an den Westen?
Nein. Ich habe immer vermutet, dass das nicht seine Absicht war. Allerdings kann ich es nicht ausschließen, wenn alle Gespräche scheitern. Russlands Außenminister Lawrow hat gesagt, es sei noch Raum für Diplomatie. Ich hoffe, der Raum wird genutzt. Ein verzweifeltes Russland ist ein gefährliches Russland.

Misstrauen Sie der leichten Entspannung?
Es ist nicht so, dass ich einen Einmarsch fürchte, aber ich fürchte anderes: Dass wir nicht imstande sind, die Wurzeln des Konflikts zu beseitigen.

Was sind die Wurzeln?
Russland braucht Respekt, die Ukraine braucht Unabhängigkeit, und Europa braucht Kooperation. Russland ist unser Nachbar, Friede ist machbar. Und zwar nicht auf Kosten von irgendjemandem, sondern unter Wahrung des gegenseitigen Respekts und aller Interessen. Wir sind wirtschaftlich, kulturell und geschichtlich miteinander verbunden. Die Amerikaner sind weit weg. Wenn die Russen in eine Allianz mit China gedrängt werden und eines Tages wieder ein Donald Trump im Weißen Haus sitzt, dann bleiben wir uneinigen Europäer als unbedeutende Restgröße zurück. Das will ich der nächsten Generation nicht hinterlassen.

Sie stehen den Wirtschaftssanktionen sehr kritisch gegenüber. Sie sagen, warum etwas tun, was uns schadet? Das könnte man auch aus europäischer Sicht hochgradig unsolidarisch nennen.
Ich argumentiere nur aus den bisher gemachten Erfahrungen. Wo waren Sanktionen hilfreich, um die damit verbundenen Ziele zu erreichen? Nicht einmal bei Nordkorea. Die Sanktionen sind schädlich. Sie haben Konflikte vertieft, nicht gelöst.

Vielleicht waren die Sanktionen einfach nicht scharf genug.
Wenn ich krank bin, zum Arzt gehe und er gibt mir Medikamente und die Krankheit wird danach noch schlimmer, muss ich das Medikament wechseln.

Wäre der Ausstieg aus der Gaspipeline North Stream II als Teil der Sanktionen eine wirksame Arznei?
Nein. Das Resultat wäre, dass wir in Europa nicht das bekommen, was wir benötigen, und Russland das Gas einfach woandershin verkauft. China hat enormen Bedarf.

Nach der Annexion der Krim 2014 waren die Wirtschaftssanktionen nicht wirkungslos. Sie haben dem Expansionsdrang Russlands Einhalt geboten. Ein Verzicht darauf hieße, Putin recht zu geben. Er hat die Geografie des Kontinents gewaltsam neu vermessen.
Putin hat mehrfach gesagt, dass Russland Sicherheit braucht. Er will keine Raketen vor der Nase haben, das ist doch logisch. Der frühere US-Präsident John F. Kennedy wollte das damals in Kuba auch nicht. Der hat auch ganz klar gesagt, bis hierher und nicht weiter. In einer ähnlichen Situation ist jetzt Russland. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen. Die Nato ist Schritt für Schritt nach Osten erweitert worden und würde bei einem Beitritt der Ukraine 400 Kilometer vor Moskau stehen.

Da werden jetzt viele sagen, hier spricht der Putin-Versteher Christoph Leitl. Was erwidern Sie?
Das hat nichts mit Putin-Versteher zu tun. Ich bin es als Unternehmer gewohnt, zu versuchen, mein Gegenüber zu begreifen. Wenn ich nicht in der Lage bin, seine Motive zu verstehen, kann ich nicht zu Lösungen kommen.

Was heißt das bezogen auf die Ukraine? Welche Rolle sollte das offizielle Österreich einnehmen?
Der österreichischen Politik kann und will ich keine Ratschläge erteilen. Ich habe aber darauf hingewiesen, dass es weise alte Männer in Europa gibt, Ex-Politiker aus neutralen Staaten, die sehr wohl imstande sind, mit dem Kapital ihrer Erfahrung und militärischer Zurückhaltung Probleme zu beseitigen.

Wo sind Ihre weisen Männer?
Der finnische Ex-Präsident Martti Ahtisaari ist ein Friedensnobelpreisträger. Warum zieht man nicht beispielsweise so jemanden als Vermittler heran, jetzt, wo der Frieden in Europa bedroht ist? Ich glaube, die Ukraine ist klug beraten, wenn sie auf Erfahrungen anderer europäischer Länder hört. Auch ein Heinz Fischer, den ich auf sehr, sehr vielen Reisen begleitet habe, hat immer einen sehr guten Gesprächskontakt gefunden, auch zu Ländern, mit denen Europa Probleme hatte.

Wollen Sie damit sagen, dass die Ukraine neutral-westlich sein soll?
Sie sollte keine Bedrohung ihres großen Nachbarn Russland zulassen, in welcher Form auch immer. Und sie sollte umgekehrt, wenn sie es wünscht, mit den anderen Ländern Europas bestmögliche Beziehungen pflegen.

Heißt: EU ja, Nato nein?
Das geht mir schon einen Schritt zu weit, weil es möglicherweise noch Zwischenschritte geben müsste. Die Politik hat hier eine Spannweite an Aktivitäten, die derzeit verhandelt werden.

Gäbe man damit in diesem Poker nicht einem aggressiv auftretenden Despoten wie Putin alle Trümpfe in die Hand?
Im Gegenteil. Ich würde Putin beim Wort nehmen und sagen: "Sie haben nicht unrecht, und wir verstehen, dass Sie sich bedroht fühlen. Wir wollen jetzt etwas tun, um die Bedrohung wegzunehmen. Aber wir wollen auch etwas von Ihnen: Eine international garantierte Unabhängigkeit der Ukraine."

Aber wie souverän und unabhängig kann die Ukraine denn sein, wenn man ihr de facto vorschreibt, dass eine Mitgliedschaft in der Nato oder gar ein EU-Beitritt nicht infrage komme, nur um Russland zu besänftigen?
Ich würde der Ukraine nie etwas vorschreiben. Wir müssen auch Kiew zubilligen, selbst Entscheidungen zu treffen. Aber wir können dem Land Erfahrungen vermitteln, die wir als Neutraler bei unserem eigenen Weg zur Selbstständigkeit gemacht haben, und damit vielleicht einen Nachdenkprozess auslösen.

Fürchten Sie nicht, dass der Konflikt in einer Zeit explodierender Energiepreise die Gasversorgung Europas gefährdet?
Spekulationen über die Gasversorgung sind nicht hilfreich. Das würde ja bedeuten, dass man den Russen einen potenziellen Vertragsbruch aus politischen Motiven unterstellt.

So weit hergeholt ist es nicht. Es gab Gaskrisen zwischen Russland und dem Transitland Ukraine, die auch Wien zu spüren bekam. Die Leute hatten Angst, dass die Heizkörper kalt bleiben.
Es wird auch in Zukunft durch die ukrainische Pipeline Gas fließen. Gas, das wir in Europa brauchen. Wir legen Kohlekraftwerke still, Deutschland schaltet Atomkraftwerke ab. Die erneuerbare Energie ist bei Weitem noch nicht an dem Punkt, wo sie äußerst kurzfristig wirksam werden könnte. Daher braucht man entweder Atomkraft oder Gas. Da ist mir Gas lieber.

Die Energiepreise steigen rasant. Welche Möglichkeiten sollte der Staat nutzen, um Haushalte und Betriebe zu entlasten?
Wir müssen aufpassen, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft das Wort sozial nicht verschwindet. Diese Preisentwicklungen betreffen alle auf breiter Front. Wir müssen das, was die soziale Marktwirtschaft ausmacht, ernst nehmen. Eine freie Marktwirtschaft, aber mit einem sozialen und ökologischen Rahmen, der unserer gesellschaftlichen Verantwortung entspricht. Dann ist es einfach.

Was ist einfach?
Energieunternehmen können hohe Gewinne schreiben, aber der Staat muss Sorge dafür tragen, dass diese an die Betroffenen zurückgegeben werden. Der Staat ist Profiteur der Situation, durch steigende Steuereinnahmen. Das gilt auch für jede Lohnerhöhung. Wenn wir die Inflation über Lohnerhöhungen abgleichen, kassiert der Staat am meisten. Das ist unanständig.

Was kann man dagegen tun?
Den sozialen Ausgleich finden.

Den Energiekonzernen, die im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, die Gewinne wegnehmen?
Nein, nicht wegnehmen. Aber sie als sozialen Ausgleich den Bedürftigen zurückgeben. Wenn man das nicht tut, dann werden die Elke Kahrs dieser Welt wesentlich mehr werden.