Es war ein jahrzehntelanger Mythos, der das Schanzen-Spektakel rund um den Jahreswechsel begleitet hat: Ist es möglich, innerhalb einer Tournee bei allen vier Stationen zu gewinnen, lautete die Frage, die Sven Hannawald vor 20 Jahren bei der 50. Auflage der traditionellen Weitenjagd mit einem „Ja“ beantwortete. Zwar dauerte es weitere 16 Saisonen, ehe mit dem Polen Kamil Stoch ein zweiter Springer dieses Bravourstück einfliegen konnte, doch hat der Grand Slam mittlerweile etwas an seiner Besonderheit verloren.

Dafür verantwortlich zeichnet Ryoyu Kobayashi. Der Japaner war 2018/19 auf keiner der vier Schanzen zu schlagen und schickt sich nun an, auch die 70. Tournee-Auflage als monotone One-Jumper-Show zu gestalten. In Oberstdorf und Garmisch ließ der 25-Jährige der Konkurrenz bereits hinter sich – und es stellt sich die Frage, wer den Kapitän der „Nippon Air“ heute in Innsbruck (13.30 Uhr, ORF 1 live) oder am Donnerstag beim Tourneefinale in Bischofshofen noch stoppen könnte?

Realistisch sieht die Situation DSV-Cheftrainer Stefan Horngacher. „Grundsätzlich kann man nur auf einen Fehler von ihm warten. Kobayashi springt extrem gut, aber irgendwann werden wir ihn schlagen“, versucht sich der Österreicher in Zweckoptimismus. Obwohl, seinem Schützling Markus Eisenbichler fehlten beim Neujahrsspringen nur 0,2 Punkte, um die Lufthoheit des Japaners bei der Tournee zu brechen.
Aber es waren eben 0,2 Zähler (oder umgerechnet rund zwölf Zentimeter) zu wenig, um den neuen Gesamtweltcupführenden Kobayashi vorzeitig als Grand-Slam-Wiederholungstäter den Garaus zu machen.

Was den Überflieger aus Hachimantai (wer’s kennt, das liegt in der Präfektur Iwate, die wiederum auf der Hauptinsel Honshu zu finden ist) gerade bei der Tournee so stark macht? Das ist neben seiner inneren Ruhe (die er auch nach Außen hin ausstrahlt) vor allem die sprachliche Barriere. So hat Kobayashi bei Interviews stets Dolmetscher Markus Neitzel (ein evangelischer Missionar, der 13 Jahre in Japan lebte) zur Seite, der sehr lange auf deutsch gestellte Fragen übersetzt und immer sehr kurze Antworten vom Japaner erhält.

Medienrummel bleibt ihm erspart

Aktuellstes Beispiel: Auf die Frage, ob er denn schon mit seinem zweiten Grand-Slam-Triumph liebäugle, meinte Kobayashi: „Daran denke ich nicht.“ Punkt. Kurz gesagt: Das Frage-Antwort-Spiel mit Kobayashi gestaltet sich meist als äußerst mühsam, daher bleibt dem 24-fachen Weltcupsieger bei der Tournee der mitunter nervige Medienrummel großteils erspart.

Zumindest hier in Europa. Denn in seiner Heimat, dem Land des Lächelns, genießt Kobayashi längst Superstar-Status und unter den sportverrückten Japanern eine Art Vergötterung, wie sie sonst nur den Tennis-Assen Naomi Osaka und Kei Nishikori, Springer-Kollegin Sara Takanashi oder einigen Baseballspielern und Fußballern zuteilwird.
Ansonsten ist Überflieger Kobayashi, der mit Richard Schallert auch einen Österreicher in seinem Trainerteam hat, aber quasi ein normaler junger Japaner mit Bodenhaftung. Wäre da nicht der Hang zu extravaganter Mode, dem er schon einmal mit einer weihnachtlichen Shopping-Tour in Paris frönt.