In Gröden ist selbst Vincent Kriechmayr immer ein wenig „weihnachtsmilde“. Allerdings nur abseits der Pisten. „Ich habe einmal gelesen, dass ich eine Hassliebe zur Saslong haben sollte“, sagte er und schüttelt ein wenig den Kopf, dann blickt er durch den Raum im „Hotel Dorfer“ in Wolkenstein. „Aber bitte, wie sollte man hier Hass empfinden können?“, fragt er und fügt lächelnd an: „Wir fühlen uns doch alle so wohl hier, es geht uns gewaltig und es ist ein echter Klassiker.“ Und immerhin hat der Oberösterreicher hier auf der Saslong auch drei seiner neun Weltcupsiege gefeiert. Zwei im Super-G, einen in der (verkürzten) Abfahrt. Und nach dem Auftakt in Beaver Creek mit den Plätzen fünf und sechs brennt Kriechmayr darauf, es schon im Super-G am Freitag (11.45 Uhr) besser zu machen.
Denn auch in Colorado war der 33-Jährige einmal mehr sehr, sehr selbstkritisch. „Ich halte Selbstkritik generell für wichtig. Und wenn du einmal gewonnen hast, dann macht dich ein 5., ein 6. Platz eben nicht zufrieden. Mein Anspruch ist ein anderer – und ich denke, das ist bei Feller, Odermatt oder Sarrazin nicht anders“, sagt er bestimmt. Ihn sporne diese trockene, gnadenlose Selbstanalyse auch an. „Aber ich habe ja auch herausragendes Material, einen exzellenten Servicemann und aktuell auch einen dreifachen Olympiasieger, der meine Ski testet“, sagt er lachend, „da bleibt mir ja nichts anderes, als die Schuld bei mir zu suchen.“
Kriechmayr wirkt entspannt und er betont, dass er nach der vergangenen Saison die Motivation wieder gefunden habe. „Aber da war es auch schwierig. Die Abfahrtssaison hat erst hier in Gröden begonnen und war mit Kitzbühel praktisch auch wieder aus. Wenn du da keinen Lauf gehabt hast, war es schwierig.“ Dazu hätten sich trotz des Gröden-Sieges im Super-G die Erfolge nicht wie gewünscht eingestellt. „Und dann wird es verkrampft. Wenn du nicht die Erfolge einhamsterst, die du erhoffst, ist das deprimierend. Es wird verbissen, weil du immer mehr versuchst, das Ruder herumzureißen. Dabei musst du es genießen und trotzdem immer voll am Anschlag sein.“ Nach dem Sommer mit Hochzeit und ausgezeichneter Vorbereitung kann Kriechmayr aber versprechen: „Das Feuer brennt in mir. Wenn ich den Ehrgeiz nicht mehr hätte, Rennen und Medaillen zu gewinnen, dann müsste ich es sofort lassen!“ Und das würde er auch tun. „Ich weiß, dass ich mit 38 sicher nicht mehr fahre. Auch wenn ich mich noch jung fühle, das Feuer noch brennt. Schauen wir, wie lange.“
Kriechmayr ist der unumschränkte Leader im Team. Eine Rolle, die er so nicht will, wie er sagt: „Wenn man das so versteht, dass ich Sachen vorgebe, dann ist es falsch. Ich mache meine Sachen so wie immer, wenn das Junge zum Vorbild nehmen, dann soll es so sein“, erklärt der Oberösterreicher, der im Team ein Sonderrecht genießt: „Ich habe ein Einzelzimmer. Ich hatte aber auch davor keine Probleme mit Zimmerkollegen. Aber seit meinen Goldenen in Cortina darf ich alleine wohnen. Das ist auch gut so, weil mein Schlafrhythmus ein anderer ist. Ich gehe früh ins Bett, stehe dafür früh auf“, erklärt er.
Sein Urteil über die aktuelle Mannschaft? „Der Grundspeed ist jedenfalls da. In Vorbereitung, in den Trainings, da brennen ja auch nicht Odermatt und Sarrazin allen immer eine auf. Worum es aber geht, ist, dass du im Kopf bereit sein musst, im Rennen dann immer noch einen Gang zuzulegen. Das ist die schwierigste Übung., weil du eben nur eine Chance hast.“ Im Vorjahr etwa habe ihm die „Detschn“ aus der ersten Abfahrt geholfen, im Super-G zurückzuschlagen. „Aber brauchen tut es die Wut nicht, ich kann auch ohne“, versichert er. Auch die Augenentzündung, die plötzlich aufgetreten ist, soll ihn daran nicht hindern. Es gehe darum, sich nicht „anzuschwitzen“, wie Kriechmayr das so gerne nennt: „In Beaver Creek sind vor mir einige ausgefallen, da habe ich in manchen Passagen zurückgezogen. Das geht nicht Tust du das in Gröden, wirst du sofort bis ganz nach hinten durchgereicht.“
Und dann wäre da noch was: Kriechmayr stellt noch einmal klar, warum er auf einen Airbag verzichtet: „Weil er mir nicht passt. Ich habe gerade wieder einen Prototypen in Arbeit, der besser passen soll. Ich bin ja für alles, was Sicherheit erzeugt, aber noch passt er mir eben nicht“, sagt er und ergänzt: „Das gilt auch für die schnittfeste Unterwäsche. Ich würde auch die nehmen, aber ich habe keine. Wobei ich meine: All das ließe sich mit einem Einheitsanzug lösen. Ich sage das, obwohl ich weiß, wie sehr die Entwicklungsabteilung des ÖSV an den Anzügen tüftelt, damit die schnell sind.“ Doch sei es seiner Ansicht nach auch wichtig, auf die Kostenseite zu schauen: „Ein Einheitsanzug würde auch den Jüngeren helfen und er würde eventuell das Tempo drosseln, dass der Airbag nicht mehr ganz so wichtig ist.“ Denn, so denkt er: „Wenn ich schon all das in der Jugend gebraucht hätte, gäbe es keinen Vincent Kriechmayr im Weltcup – weil sich meine Eltern das nicht hätten leisten können.“ Daher appelliert der Doppelweltmeister von 2021 an alle: „Wir sollten das Thema Leistbarkeit in den Vordergrund rücken. Ich wäre froh, wenn unser Sport nicht ausstirbt.“