Der zügige Vormarsch der radikal-islamistischen Taliban in Afghanistan und die schweren Kämpfe im Land wirken sich zunehmend auf die Abschiebepolitik der EU aus. Während immer mehr Mitgliedsstaaten angekündigt haben, Rückführungen dorthin vorläufig auszusetzen, will Österreich diese weiterhin durchführen, bekräftigt man im ÖVP-geführten Innenministerium. Es entscheide jeder Staat selbst, wie er mit Menschen ohne Bleiberecht umgehe. Der grüne Koalitionspartner sieht das anders. Vizekanzler Werner Kogler bezeichnete das Organisieren von Flügen in das Krisenland in den kommenden Wochen als „de facto unmöglich“.

Ein Blick auf die bisherige Praxis. Seit den „Fluchtjahren 2015/16 führt Afghanistan neben Syrien die heimische Asylstatistik an, 52.000 Anträge wurden hier seit 2015 verzeichnet. Eine zwangsweise Außerlandesbringung jener, die kein Aufenthaltsrecht in Österreich erhalten haben, ist aber erst seit 2017 möglich. Im Jahr davor war auf EU-Ebene ein entsprechendes Abkommen mit Afghanistan geschlossen worden, seither koordinieren die Länder über eine eigens eingerichtete Plattform der Grenzschutzagentur Frontex entsprechende Flüge.

Bisher nahm Österreich an diesen nur teil, anstatt sie selbst zu organisieren. Unter anderem deshalb, weil es vor Ort keine heimische Botschaft gibt. Abschiebungen nach Georgien oder Pakistan werden aktuell hingegen vorrangig von Österreich organisiert.

26 Charterflüge seit 2017, "Vorrang" für Straftäter

Für Afghanistan habe man vor allem mit den Schweden bis zuletzt eng zusammengearbeitet, die häufig per Zwischenstopp in Wien Abzuschiebende „mitgenommen“ hatten. An 26 Charterflügen nach Afghanistan war man seit 2017 beteiligt, allein heuer war Österreich bei vier Transporten dabei. 45 Personen traten dabei die Ausreise freiwillig an, 121 wurden zwangsweise außer Landes gebracht. Der letzte Flieger hob mit sechs abzuschiebenden Personen am 16. Juni von Wien in Richtung Kabul ab, 31 Menschen waren damals an Bord.

„Vorrang“ für die von Österreich besetzten Plätze in den Maschinen haben verurteilte Straftäter, betont man im Innenministerium. Bei der letzten Gruppe waren das zwei der sechs österreichischen Passagiere. Doch auch unbescholtene, zur Ausreise verpflichtete Menschen ohne Bleiberecht sind dabei. Nach Ankunft in Kabul prüfen die afghanischen Behörden dann die Papiere der Ankommenden und informieren diese über erste Schritte nach der Rückkehr.

Österreich will Flüge selbst organisieren

Nachdem nach Schweden nun auch Frankreich, Dänemark und Deutschland Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt haben, werde Österreich nun wohl selbst nationale Charterflüge organisieren und durchführen, heißt es im Innenministerium. Koordiniert werden könnte das Ganze über die Botschaft in der – rund acht Autostunden von Kabul entfernten – pakistanischen Hauptstadt Islamabad.

Unklar ist derzeit aber noch die Finanzierung. Laut Ministerium gelte es nun mit Frontex abzuklären, ob die selbst organisierten Charterflüge über die Agentur laufen und damit aus dem EU-Budget finanziert werden. Wird das abgelehnt, muss Österreich selbst für die Kosten aufkommen. Genaue Summen will man im Ministerium nicht nennen, diese seien auch von der Größe des jeweils gebuchten Flugzeuges abhängig. Teurer dürfe die Sache aber definitiv werden. Um ein Gefühl für die Größenordnungen zu bekommen: Größere Charter-Flüge in Länder wie Nigeria kommen derzeit auf bis zu 200.000 Euro pro Flug.

Ministerium prüft Sicherheitslage

Wie lange Charter-Flüge nach Kabul überhaupt noch möglich sein werden, will im Ministerium niemand abschätzen. Man prüfe bei jedem Flug die Sicherheitslage vor Ort, hieß es zuletzt von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP). Beobachter der Region rechnen mit einigen Tagen bis wenigen Wochen.

Erst vor einer Woche hatte sich Österreich gemeinsam mit Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland und den Niederlanden per Brief an die EU-Kommission gewandt, um sicherzustellen, dass Abschiebungen nach Afghanistan weiter durchgeführt werden sollen. Wenig später verkündeten Deutschland, Dänemark und die Niederlande die Aussetzung der Rückführungen. Auch Belgien will seine Linie nun überdenken, lediglich Griechenland will nichts von einer Aussetzung wissen.

"Hölle auf Erden"

Eine solche verlangen nun auch zahlreiche Hilfsorganisationen, unter anderem das Rote Kreuz. „Vertreter vor Ort und Vertreter des Roten Halbmondes sagen übereinstimmend, das ist die Hölle auf Erden“, erklärte Präsident Gerald Schöpfer gegenüber Ö1. „Ich wünsche mir schon Politiker, die den aufrechten Gang üben. Die den Rechtsstaat, die Verpflichtungen, die Österreich in guten Zeiten eingegangen ist, auch in Zeiten, wo es nicht populär ist, einhalten.“

Rechtlich seien die Abschiebungen angesichts der instabilen Lage im Land bereits jetzt nicht mehr möglich, warnen zahlreiche Experten. Zu diesem Urteil kam zuletzt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Im Ministerium zeigt man sich davon bisher unbeeindruckt.