Erweiterungskommissar Oliver Várhelyi sprach nicht nur über wirtschaftliche und politische Bereiche, er sprach auch über Menschen. Zweimal kam er am Dienstag vor Journalisten in der EU-Kommission auf die Roma zu sprechen, die besondere Unterstützung durch die EU erfahren sollten. Es ging um die Beitrittskandidaten am Westbalkan, die Volksgruppe dürfe man nicht vergessen, das sei eine "besondere soziale Herausforderung."
Der vorgelegte Erweiterungsbericht zu den sechs Ländern der Region beklagt zunächst allerdings schleppende Fortschritte in vielen Reformbereichen. In der gesamten Westbalkanregion herrsche "weiterhin ein langsames Tempo" bei Reformen im Bereich der Justiz, erklärte die Kommission zu Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Häufig fehle es in den Ländern am "politischen Willen", Fortschritte zu erzielen.
Im Bereich der Korruptionsbekämpfung habe sich die Geschwindigkeit daneben vielfach "verlangsamt", hieß es weiter. Hier sei die "Erfolgsbilanz der meisten Partner weit von der Erfüllung der Voraussetzungen für die Mitgliedschaft entfernt". Die "geringsten Fortschritte" habe es bei Meinungs- und Medienfreiheit gegeben.
Die EU will die Zahlungen aus dem Investitionsplan auch von Fortschritten bei Reformen abhängig machen. Bei deutlichen Rückschritten sollen Gelder gekürzt werden. Ein rund neun Milliarden Euro schwerer Wirtschafts- und Investitionsplan soll alle sechs Länder auf den Weg in Richtung EU-Mitgliedschaft bringen und sie den unerwünschten Einflüssen von Großmächten entziehen. Várhelyi listete zehn Initiativen auf, die unter anderem den Ausstieg aus Kohlekraft oder den Ausbau von Verkehrsverbindungen ermöglichen.
Umstrittene Erweiterung
Die Aufnahme weiterer Mitglieder ist in der EU hoch umstritten. In den vergangenen zwei Jahren hatten die Mitgliedstaaten darüber gestritten, ob sie Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien starten. Grünes Licht dafür gab es erst Ende März, nachdem auf Druck Frankreichs das Verfahren verschärft wurde.
Demnächst sollen Konferenzen mit beiden Ländern stattfinden, die den Startschuss für die Verhandlungen geben. Erweiterungskommissar Oliver Várhelyi sagte, er hoffe, dass dies noch unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft bis Ende des Jahres möglich sei. Hierfür müssten nun die Mitgliedstaaten auf Basis der Erweiterungsberichte Grünes Licht geben.
Bei Serbien und Montenegro laufen die Beitrittsverhandlungen bereits seit Jahren - doch sie kamen zuletzt kaum voran. Bei Serbien gilt das Verhältnis zu seiner ehemaligen Provinz Kosovo als Hauptproblem. Dessen Unabhängigkeit will Belgrad nicht anerkennen. Der Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben bisher nur den Status von "potenziellen Beitrittskandidaten". Verhandlungen gibt es nicht.
Reaktionen aus Österreich
SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder, zugleich auch Vorsitzender der Nordmazedonien-Delegation im EU-Parlament, zeigte sich erfreut über die Präsentation des Erweiterungspakets. Dies sei ein "wichtiger Schritt auf dem Weg des Westbalkan in Richtung Europa", sagte er in einer Aussendung. Er sprach sich zudem für einen Reformfahrplan und einen unterschiedlichen Umgang mit den Westbalkanländern aus. So habe etwa Nordmazedonien in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, Serbien bewege sich eher weg von der EU.
Die EU sei ohne die Staaten des Westbalkans unvollständig, meinte Lukas Mandl, Außenpolitik- und Sicherheitssprecher der ÖVP im Europaparlament in einer Aussendung. Doch alle Staaten des Westbalkans müssten "konsequente Reformen umsetzen, damit sie eines Tages beitreten können".
Der Grüne EU-Abgeordnete Thomas Waitz kritisierte, dass die Kommission zu wenig "grün" investiere. Das beschlossene Paket sei eine "vergebene Chance für einen nachhaltigen Wiederaufbau" nach der Coronakrise. Was die Region brauche, seien "langfristige Vorschläge in Richtung Solarenergie und Maßnahmen für Gebäudesanierung zur Energieeinsparung und flächendeckende Stromversorgung sowie massive Investitionen in ländliche Gebiete", erklärte Waitz in einer Stellungnahme.
Türkei nimmt sich selbst aus dem Rennen
Schwerwiegende Rückschritte in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und bei der Unabhängigkeit der Justiz“ – in ihrem jährlichen Erweiterungsbericht stellt die EU-Kommission wenig überraschend ein deutliches Abdriften der Türkei fest. Das Land bleibe – trotz der Verurteilung am Gipfel letzte Woche – zwar ein wichtiger Partner in der Migrationspolitik. Doch die Spannungen in der Außenpolitik seien zunehmend problematisch. Die Beitrittsverhandlungen sind seit 2016 quasi auf Eis, die EU hat zuletzt auch einen Teil der Vorleistungen eingefroren.