Die ukrainische Armee hat bei ihrer Gegenoffensive im Südosten der Ukraine einen bedeutenden Sieg errungen: Neun Monate nach Beginn des Krieges räumte die russische Armee am Freitag die strategisch wichtige Stadt Cherson und überließ das Feld den ukrainischen Streitkräften. "Cherson kehrt unter die Kontrolle der Ukraine zurück", erklärte das Verteidigungsministerium in Kiew. Ukrainische Truppen wurden am Hauptplatz der Stadt von einer begeisterten Menge empfangen.

30.000 Russen verlassen Region

Die russische Armee hatte den vollständigen Truppenabzug nach eigenen Angaben am frühen Freitagmorgen abgeschlossen. Um 05.00 Uhr (04.00 Uhr MEZ) sei "der Transfer russischer Soldaten ans linke Ufer des Flusses Dnipro beendet" gewesen, teilte das russische Verteidigungsministerium in einer in Online-Diensten veröffentlichten Erklärung mit. Demnach wurde "kein einziges Teil militärischer Ausrüstung und Waffen" auf der anderen Flussseite zurückgelassen. Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlichte Aufnahmen von russischen Militärfahrzeugen, die Cherson über die Antonowski-Brücke verließen. Die russische Armee gab an, mehr als 30.000 Soldaten aus dem Norden der Region Cherson zurückgezogen zu haben.

Beim Rückzug auf das andere Flussufer seien viele russische Soldaten ertrunken, behauptete die Regionalverwaltung von Cherson. Dabei sollen sie auch die wichtige und zuletzt durch ukrainischen Beschuss schwer beschädigte Antoniwka-Brücke über den Fluss Dnipro gesprengt haben. Das russische Verteidigungsministerium meldete Freitagmittag wiederum, mehr als 20 ukrainische Soldaten seien beim Versuch, den russischen Truppen nachzustellen, durch Minenfelder getötet worden, wie die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti berichtete. Diese Meldungen können nicht unabhängig überprüft werden.

Ukraine-Flaggen werden gehisst, Soldaten empfangen

Im Zentrum der Stadt wurden ukrainische Flaggen gehisst. Die ersten ukrainischen Soldaten wurden von einigen Menschen euphorisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt. "Cherson kehrt unter die Kontrolle der Ukraine zurück, Einheiten der ukrainischen Streitkräfte betreten die Stadt", schrieb das ukrainische Verteidigungsministerium im Online-Dienst Facebook und rief verbliebene russische Soldaten dazu auf, "sich augenblicklich zu ergeben". Die Rückzugsrouten der "russischen Invasoren" seien unter Feuer der ukrainischen Armee, erklärte Kiew weiter. "Jeder russische Soldat, der Widerstand leistet wird eliminiert." Wer sich ergebe werde jedoch am Leben gelassen, erklärte das Ministerium. Demnach hätten einige russische Soldaten den Befehl erhalten, sich als Zivilisten gekleidet in der Stadt zu verstecken.

Die ukrainische Regionalverwaltung warnt die Bevölkerung eindringlich davor, ihre Häuser zu verlassen, bevor ukrainische Truppen die Stadt vollständig eingenommen haben und die Suche nach möglicherweise zurückgelassenen russischen Truppen abgeschlossen sei. Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten auch bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Kachowka-Staudamms eingerückt.

Kurz nach dem Abzug der eigenen Truppen aus der ukrainischen Gebietshauptstadt Cherson und weiteren Orten hat Russland eigenen Angaben zufolge mit Angriffen auf die gerade erst aufgegebene Region begonnen. "Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro beschossen", teilte Russlands Verteidigungsministerium am Freitag mit.

Die Region Cherson ist seit Wochen Ziel der ukrainischen Gegenoffensive. Für Moskau ist die Region strategisch von großer Bedeutung, um die Offensive in Richtung Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortsetzen zu können. Darüber hinaus beherbergt Cherson den Kachowka-Staudamm, der die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt.

Moskau sieht das ukrainische Gebiet Cherson auch nach dem Abzug seiner Truppen weiter als russisches Staatsgebiet an. Das Gebiet Cherson bleibe Teil der Russischen Föderation, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. "Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben", sagte Peskow.

41 Ortschaften befreit

Russland hatte am Mittwoch den Truppenabzug aus der Gebietshauptstadt Cherson angekündigt, weil die Versorgung der eigenen Soldaten etwa durch nicht mehr nutzbare Brücken unmöglich geworden war. Seither melden die ukrainischen Streitkräfte ein schrittweises Vorrücken in der Region. Mehrere Ortschaften wurden demnach wieder befreit. Nach dem Scheitern des Vormarschs auf Kiew und dem Rückzug bei Charkiw gilt dies als weitere militärische Niederlage Russlands.

Auf die Frage, ob die Niederlage in Cherson nicht erniedrigend sei für Putin, antwortete Peskow mit einem "Nein". Putin hatte Ende September vier ukrainische Gebiete, darunter Cherson, bei einer Zeremonie im Kreml vollmundig zu einem Teil Russlands erklärt. Peskow machte deutlich, dass der Kreml auch die Feier auf dem Roten Platz zur Einverleibung der Regionen nicht bereue. Die Weltgemeinschaft sieht in den Annexionen einen Völkerrechtsbruch.

Die Soldaten der Ukraine rücken den bei Cherson abziehenden russischen Einheiten scheinbar unaufhaltsam nach, diese verkündeten heute den vollständigen Rückzug aus der Stadt. In dem Gebiet rund um die südukrainische Stadt seien bereits 41 Ortschaften befreit, teilte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstagabend in seiner täglichen Videobotschaft mit. Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die im Rahmen der laufenden Verteidigungsoperation "an ihren rechtmäßigen Platz" zurückkehrten, gehe demnach in die Dutzende.

Allein seit Mittwoch seien ukrainische Verbände bis zu sieben Kilometer tief in ehemals von Russen besetztes Gebiet vorgestoßen, berichtete der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj. Nach Darstellung des Generalstabs in Kiew zogen die russischen Militärs nur langsam ab, um ihre Verteidigungslinien am linken Ufer des Dnipro zu verstärken.

Wie der ukrainische Gouverneur des Gebietes Mykolajiw, Witalij Kim, berichtete, sei Tschornobajiwka, ein Vorort direkt an der Stadtgrenze von Cherson, bereits unter ukrainischer Kontrolle. Nähere Angaben machte er zunächst nicht. "Wir schweigen weiterhin, denn all dies ist Sache des Militärs." Freitag ist der 261. Tag des Krieges.