Einst war Afghanistan auf dem besten Weg zu einer modernen Demokratie: Reformen in den 1960er-Jahren machten ein Zwei-Kammern-Parlament, Wahlen, Pressefreiheit und die Emanzipation von Frauen möglich. Der damalige König gründet die erste Universität, aus dem Ausland kommt Know-How und jede Menge Geld - das Land am Hindukusch floriert. Doch das Blatt wendet sich, seit 1978 befindet sich Afghanistan durchgehend im Krieg. Gerhard Mangott, Universitätsprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck, blickt im Gespräch mit der Kleinen Zeitung in die Vergangenheit.

Zum zweiten Mal in der Geschichte fällt Afghanistan in die Hände der Taliban. Was unterscheidet die Terrormiliz heute von damals?

Heute haben sie mehr Kampferfahrung als in den 90er-Jahren. Sie sind jetzt auch besser bewaffnet: Der Kollaps der afghanischen Armee hinterlässt den Taliban eine Fülle an amerikanischen und westlichen Rüstungsgütern, die in den letzten 20 Jahren nach Afghanistan gebracht wurden. Aber sie sind nicht nur militärisch mächtiger, auch politisch sind sie reifer geworden. Sie verstehen es, diplomatischer vorzugehen als damals. Das betrifft nicht die Frage, wie die Gesellschaft neu organisiert und islamisiert werden soll, da wird sich die gegenwärtige Herrschaft nicht von den in den 90er-Jahren unterscheiden. Nach außen, gegenüber anderen Staaten zeigt man sich aber gesprächs- und verhandlungsbereiter als es die Taliban in den 90er-Jahren waren.

Obwohl man seitens der Taliban auch angekündigt hat, die Rechte von Frauen zu respektieren.

Davon halte ich nicht wirklich etwas, das ist politische PR. Diesen Versprechen ist nicht zu trauen, das zeigen auch schon die Erfahrungen in einigen Provinzhauptstädten, die die Taliban schon früher eingenommen haben. Dort wird wieder die gleiche strenge Auslegung des Korans vertreten und eine sehr konservative, frauenfeindliche und minderheitenfeindliche Politik verfolgt.

Der Name Zahir Schah wird Ihnen sicherlich auch etwas sagen. Obwohl er einer Monarchie vorstand, war Afghanistan unter ihm auf dem besten Weg zu einem modernen demokratischen Staat. Schließlich wurde er in persönlicher Abwesenheit gestürzt. Warum?

Das hing mit verschiedenen Rivalitäten zusammen. Es gab zwar damals noch keine Warlords im heutigen Sinn, aber die Elite war nicht geschlossen, sie war gespalten. Es gab einige mit großen Machtambitionen, die diese auch glaubten, erreichen zu können. So wurde der König von der Macht beseitigt.

Im Gespräch: Gerhard Mangott, Universitätsprofessor für Politikwissenschaft auf der Universität Innsbruck
Im Gespräch: Gerhard Mangott, Universitätsprofessor für Politikwissenschaft auf der Universität Innsbruck © (c) Gerhard Mangott

Nach dem 11. September 2001 stürzten die USA das Taliban-Regime. Im Zuge der 'Operation Enduring Freedom' herrschte erst Ruhe, aber der Zentralregierung fehlt das Gewaltenmonopol. Zu viele Kräfte mischen mit, selbst die NATO unterstützt vereinzelt lokale Warlords. Präsident Hamid Karzai wird als "Bürgermeister von Kabul" verspottet, weil sein Einflussgebiet de facto nicht über die Stadtgrenzen hinausreicht. Dann melden sich die Taliban zurück. Warum wollte es nicht gelingen, Frieden und Stabilität in das Land zu bringen?

Anfänglich schien die Operation 'Enduring Freedom' erfolgreich zu sein: Die Taliban wurden aus Kabul und weiten Teilen Afghanistans verdrängt und haben in Pakistan Zuflucht gesucht. Auch die Al-Qaida-Führung wurde zerschlagen, was ja der eigentliche Anlass für die Intervention der USA gewesen war. Womit man sich vertan hat ist zu glauben, dass man im Rahmen der Operation tatsächlich in Afghanistan eine Demokratie nach dem Ebenbild der Vereinigten Staaten aufbauen kann, dass es gelingen wird, die staatlichen Institutionen zu festigen und eine nationale Identität herzustellen. Dieser Illusion hat man 20 Jahre nachgejagt und es hat sich jetzt innerhalb weniger Wochen gezeigt, dass all das, was man in Hinblick auf Nation und State Building getan hat in sich zusammengebrochen ist - als ob nichts in diesen Prozess investiert worden wäre. 

Auch wenn das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Regierungen sehr groß war, die Taliban verübten sogar Terroranschläge auf Zivilisten. Kann es überhaupt eine Art Rückendeckung aus der Bevölkerung für die neuen Machthaber geben?

Rückendeckung nicht. Aber die amerikanischen und NATO-Truppen wurden anfangs als Befreiungstruppen wahrgenommen. Später wurden sie immer mehr als Besatzungstruppen angesehen. Die Taliban wurden zu einer Kraft, die gegen diese westliche militärische Präsenz kämpft und Afghanistan aus der westlichen Bevormundung wieder befreien will. 

Geben sich die Taliban mit Afghanistan zufrieden, oder schielt man über die Ländergrenzen hinaus?

Die Taliban sind eine religiös-ethnische Bewegung, die ihren Horizont nur die afghanischen Landesgrenzen ausgerichtet hat. Das unterscheidet sie vom Islamischen Staat, der in Afghanistan auch seit einigen Jahren aktiv ist. Sie sind nicht transnational ausgerichtet, sondern die Taliban genügen sich mit ihrem Einfluss und der Machtausbreitung in Afghanistan. Insofern sind sie für die Russen auch sehr wichtig, weil die Taliban auch immer gegen den Islamischen Staat gekämpft haben. Obwohl Teile der Taliban zum IS übergelaufen sind, werden die Taliban auch in den nächsten Jahren - da bin ich zuversichtlich - sich gegen den Islamischen Staat einsetzen und keine Rivalitätsorganisation auf afghanischem Territorium zulassen, um die eigene Autorität voll entfalten zu können. Wenn sie das tun, sind sie sehr nützlich für Russland, die zentralasiatischen Verbündeten der Russen aber auch für China.

Sie gehen davon aus, dass sich die Taliban nun an der Macht halten?

Ja, es gibt keine Kraft, die sich den Taliban entgegenstellen wird.

Im Februar 2020 unter unterzeichneten die Vereinigten Staaten und die Taliban ein Friedensabkommen, das die USA und die NATO dazu verpflichtete, ihre Streitkräfte innerhalb von 14 Monaten aus Afghanistan abzuziehen. Ist die aktuelle Situation das Ergebnis, wenn man mit Terroristen verhandelt?

Die Regierung Trump wollte aus Afghanistan raus, so wie die von Biden. Dazu wollte man bestimmte Sicherheitsgarantien für einen gesicherten Rückzug, zumindest was die eigenen Soldaten betrifft. Man hat sich auch Illusionen gemacht, dass sich die Regierung Ghani länger an der Macht halten könnte und dass die afghanische Armee fähig und bereit sein würde, sich gegen die Taliban zu verteidigen. Das sagt etwas über das mangelnde Verständnis der Amerikaner aus, was im Land passiert und wie die Kräfteverhältnisse eigentlich aussehen bzw. wie stabil das von den Amerikanern und ihren Verbündeten aufgebaute, offizielle Afghanistan eigentlich war.

Also muss man die Amerikaner in die Verantwortung nehmen? Oder ist die Situation zu kompliziert, um die Schuldfrage zu stellen?

Dass sich die USA aus Afghanistan zurückziehen ist vernünftig, denn dieser Krieg ist seit vielen Jahren verloren. Dennoch hat sich kein Präsident daran gewagt, die militärische Präsenz zu beenden, die Niederlage einzugestehen, um sich aus diesem unlösbaren Problem zu entwirren. Der Abzug war zwar eine Niederlage, aber richtig. Man wusste, man kann zwar noch weitere 20 Jahre bleiben und diese relative Stabilität aufrechterhalten, aber man wird das Land nie auf eine zivilisierte und stabile Bahn lenken können. Biden hat die Notbremse gezogen, und dafür gebührt ihm Respekt. Die früheren Präsidenten haben dieses Problem ungelöst auf ihre Nachfolger gewälzt. 

Ist das das Schicksal der afghanischen Bevölkerung?

Die USA haben etwas probiert, mit dem sie sich übernommen haben. Die Vorstellungen der Amerikaner waren von Anfang an völlig fehl am Platz. Man hat die Realitäten der afghanischen Geschichte verkannt. Biden hat das Scheitern konstatiert und wollte nicht noch mehr amerikanisches Geld und Soldatenleben in Afghanistan zu versenken, in einem Bemühen ohne Aussicht auf Erfolg.