Und er hat es wieder getan. In der Schublade der Pauschalurteile gewühlt, gezielt ausgeholt und dann möglichst dramatisch eine Verbalrakete abgefeuert: „Ich verfluche den österreichischen Staat. Er will wohl, dass die Muslime den Preis dafür zahlen, dass er die Juden einem Genozid unterzogen hat“, schimpfte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in die Mikrofone. Ausgelöst hatte den Wutanfall, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz die israelische Fahne hissen ließ – aus „Solidarität mit Israel“, wie er sagt. Jetzt zitiert der österreichische Außenminister den türkischen Botschafter ins Außenamt, um zu protestieren. Und in der Türkei bejubeln Erdogan-Anhänger ihren Präsidenten.

Die Fahne, die nicht nur unter Muslimen Kritik hervorgerufen hatte, ist mittlerweile wieder eingeholt. Beide Seiten werden sich der zu erwartenden Wirkung ihrer Hiss- und Schimpf-Aktionen bewusst gewesen sein. Dafür sind sie lange genug im Dienst. Wortgefechte und wohlkalkulierte Provokationen prägen das österreichisch-türkische Verhältnis seit Jahren.

Retourkutsche

Vergiftet sind die Beziehungen vor allem seit dem EU-Gipfel 2005, als die damalige Außenministerin Ursula Plassnik (ÖVP) die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit Ankara blockiert hatte. 2006 sprach sie von einem „Fahren auf Sicht“. 2011 erfolgte die Retourkutsche. Die Türkei verhinderte mit einem Veto, dass Plassnik Generalsekretärin der OSZE wurde.

Auslöser für Reibereien fanden sich seitdem reichlich, und sie wurden nicht nur von ÖVP-Seite befeuert: 2010 wird die Türkei Thema im Wiener Gemeinderatswahlkampf. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache ermutigt in einem Comic einen Buben dazu, einem türkischen Belagerer Wiens („Mustafa“) mit einer Steinschleuder zu Leibe zu rücken. 2016 sprach sich Christian Kern (SPÖ) als erster EU-Regierungschef für den Abbruch der Beitrittsgespräche aus; der türkische Außenminister nennt Wien daraufhin die „Hauptstadt des radikalen Rassismus“. 2017 verkündet Sebastian Kurz, dass Werbe-Auftritte Erdogans vor dem türkischen Verfassungsreferendum „unerwünscht“ sind. „Wer sich in der türkischen Innenpolitik engagieren will, dem steht es frei, unser Land zu verlassen“, hatte er zuvor schon in Österreich lebenden Erdogan-Anhängern ausgerichtet, nachdem es in Wien zu gewalttätigen Krawallen gekommen war. Die Türkei wiederum blockiert Nato-Partnerschaftsprogramme, in die Österreich eingebunden ist.

Der ewige Kampf um Wien

Mag sein, dass sich Wien für Erdogan besonders gut als Reibebaum eignet: Der Mythos von der Türkenbelagerung und dem Kampf um Wien lässt sich von beiden Seiten geschickt bedienen, obwohl historisch betrachtet auch einiges an Freundschaft und Kooperation gelebt wurde. Doch derzeit punkten im Konfliktfall beide Seiten innenpolitisch; sowohl Kurz als auch Erdogan stehen daheim derzeit ziemlich unter Druck. Zugleich gibt es reale Probleme der Integration der Gastarbeiter und ihrer Nachkommen, die sich mit Brachialrhetorik nicht lösen lassen. Und die Palästinenser, auf deren Seite Erdogan sich stellte, haben von den Beschimpfungen Österreichs auch ziemlich wenig.

Eine exklusive Rolle als Beschimpfter hat Sebastian Kurz nicht. Erdogan ist Wiederholungstäter. Nachdem ihm Angela Merkel 2017 untersagt hatte, zu seinen Fans in Deutschland zu sprechen, verglich Erdogan die deutsche Kanzlerin mit den Nazis und warf ihr faschistische Methoden vor. 

"Geistiger Zustand"

Dem französischen Präsidenten Emanuel Macron warf er eine „Lynchkampagne“ vor, weil dieser nach der Enthauptung eines französischen Lehrers die Meinungsfreiheit und auch die Veröffentlichung religionskritischer Karikaturen verteidigt hatte. Macron solle seinen „geistigen Zustand“ überprüfen lassen, wetterte Erdogan.
Dahinter steht die sich wandelnde Rolle, die Erdogan sich selbst und der Türkei zuschreibt. Er selbst beschreibt sie als „selbstbewusste Nation“ – seine Nachbarstaaten erleben sie auch als aggressiv.

Der zunehmend autoritär regierende und reagierende Herrscher in Istanbul sieht sich dabei in Opposition zu liberalen westlichen Gesellschaften, denen er pauschal anti-muslimischen Rassismus vorwirft. Der Nato gehört die Türkei weiterhin an – zugleich fühlt er sich dem westlichen Verteidigungsbündnis immer weniger verbunden und pflegt zu Russland – durchaus komplizierte – Sonderbeziehungen.

Als selbsternannter Verteidiger der Muslime vergreift sich Erdogan oft gewaltig im Ton und schüttet mit seinen Rabiat-Attacken das Kind mit dem Bade aus. Zu den Verbrechen, die etwa in Frankreich von selbst ernannten „Gotteskriegern“ im Namen des Islam begangen werden, im Westen und auch in muslimischen Ländern, schweigt er sich aus.