Der britische Premierminister Boris Johnson will nun offenbar doch nicht "lieber tot im Graben liegen" als eine weitere Brexit-Verschiebung zu beantragen. Wie aus am Freitag bekannt gewordenen Gerichtsdokumenten hervorgeht, will Johnson einen Antrag nach Brüssel schicken, wenn es bis 19. Oktober keinen beschlossenen Austrittsdeal geben sollte.

Abgeordnete hatten vor dem schottischen Höchstgericht geklagt, um Johnson zur Einhaltung des Anfang September vom Unterhaus beschlossenen Gesetzes gegen einen No-Deal-Brexit zu zwingen. Der Premier hatte bisher versichert, dass er dem Gesetz entsprechen werde, zugleich aber kategorisch ausgeschlossen, dass sein Land über den 31. Oktober hinaus in der Europäischen Union bleiben wird. Gegenüber dem Gericht erklärte er nun, dass er wie vom Gesetz verlangt eine Brexit-Verschiebung bei der Europäischen Union beantragen wird, wenn es zum Stichtag 19. Oktober keinen Deal geben sollte.

Die EU und Großbritannien hatten sich vor knapp einem Jahr auf einen Austrittsdeal geeinigt, der aber drei Mal im britischen Parlament durchfiel. Weil deswegen auch das ursprüngliche Austrittsdatum 29. März nicht eingehalten werden konnte, musste Premierministerin Theresa May das Handtuch werfen. Johnson gelang die Wahl zu ihrem Nachfolger mit dem Versprechen, den Brexit jedenfalls Ende Oktober durchzusetzen, auch um den Preis eines vertragslosen Zustands mit der EU.

Der ursprüngliche Austrittsdeal ist wegen des nordirischen "Backstop" umstritten, der die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zum EU-Mitglied Irland verhindern soll. Johnson übermittelte der EU am Mittwoch einen Alternativvorschlag, der aber auf kritisches Echo in Brüssel stieß.

So betonte der irische Außenminister Simon Coveney am Freitag, dass es bei den Vorschlägen Johnsons noch Nachbesserungsbedarf gebe. Bleibe es bei diesen Vorschlägen, laufe es auf einen EU-Ausstieg Großbritanniens ohne Vertrag hinaus. "Der Spielraum des Premierministers ist sehr eng, aber er hat sich ja selbst in diese Ecke manövriert."

Auch EU-Parlamentspräsident David Sassoli bezeichnete die Vorschläge Johnsons als ungenügend. "Zumindest in ihrer gegenwärtigen Form sind die britischen Vorschläge nicht mal ansatzweise eine Grundlage für ein Abkommen, dem das Europäische Parlament zustimmen könnte", sagte Sassoli dem "Spiegel". "Uns geht es darum, die Einheit des Binnenmarkts zu wahren, die wirtschaftliche Einheit auf der irischen Insel zu sichern und den Friedensprozess aufrechtzuerhalten."

"Kein Ultimatum", sondern praktische Notwendigkeit

Vertreter von EU-Kommission und Rat forderten indes einen Durchbruch im Brexit-Streit bis spätestens Freitag kommender Woche (11. Oktober). Dies sei "kein Ultimatum", sondern eine praktische Notwendigkeit in Vorbereitung auf den EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober. "Wenn es bis zum Freitag nichts gibt, gibt es nicht genug Zeit, um vor dem Gipfel eine Vereinbarung zu erzielen", sagte ein EU-Vertreter.

Der Rechtstext müsse Ergebnis der Gespräche zwischen der Londoner Regierung und dem Team von EU-Chefunterhändler Michel Barnier sein, sagte ein weiterer EU-Vertreter. Ein EU-Diplomat sagte, beide Unterhändler befänden sich derzeit "im Tunnel" und suchten nach einer Lösung. Die Mitgliedstaaten würden "Ende nächster Woche wissen, ob wir wirklich Verhandlungen über den Text beginnen können."

Es gebe "eine Menge Fragezeichen" hinter dem Vorschlag von Premierminister Boris Johnson, sagte der Diplomat weiter. Einerseits gehe es um die Frage, ob Zollkontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und Irland direkt an der Grenze tatsächlich über technische Möglichkeiten vermieden werden könnten. Anderseits habe die EU auch Probleme mit Johnsons Forderung, dass das nordirische Parlament die Vereinbarung billigen und alle vier Jahre bestätigen soll. "Für uns ist das schwer vorstellbar", sagte der Diplomat. Sollte nämlich Nordirland entscheiden, dass es sich nicht mehr an die EU-Regeln halte, "steht die Integrität des Binnenmarkts auf dem Spiel".

Nachwahlniederlagen

Selbst wenn die Europäische Union auf die Vorschläge Johnsons einsteigen würde, ist äußerst fraglich, ob diese durchs Unterhaus kommen würden. Johnsons Vorgängerin Theresa May war mit dem Austrittsdeal drei Mal im Londoner Parlament gescheitert. Das Regierungslager ist durch Nachwahlniederlagen, Austritte und Ausschlüsse mittlerweile weiter geschrumpft. Oppositionschef Jeremy Corbyn machte indes klar, dass seine Labour Party keine Stimmen für Johnsons Deal beisteuern werde. Sie fordert eine Verschiebung des Brexit, gefolgt von Neuwahlen und einem zweiten Referendum über den EU-Austritt.