Draußen auf dem Heldenplatz gab es eine kleine Demo von Atomwaffengegnern, drinnen im Palais Niederösterreich wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt: Wien stand wieder im Zentrum von Nukleargesprächen der Supermächte – allerdings waren die Erwartungen nur sehr gering. Der „New Start“-Vertrag begrenzt die Zahl der einsatzbereiten strategischen Nuklearsprengköpfe auf 1550 sowie die Zahl der Trägersysteme, wie Bomber und ballistische Raketen, auf 800 pro Atommacht. Zusätzlich beinhaltet er sogenannte „vertrauensbildende Maßnahmen“ wie gegenseitige Inspektionen von ballistischen Raketen-U-Booten, Raketensilos und Militärstützpunkten.

Die Gespräche in Wien endeten am Abend ergebnislos. Weder der US-Chefverhandler, Marshall Billingslea, Sondergesandter von Präsident Donald Trump für Rüstungskontrolle, noch sein Pendant, der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow, hatten viel Verhandlungsspielraum. Trump und die Atomwaffenlobby in den USA wollen den Vertrag, der im Februar 2021 ausläuft, nicht verlängern. Der Hauptgrund: China soll in die Verhandlungen einbezogen werden. Peking lehnte jedoch ab. Die Atomwaffenarsenale der USA und Russland sind laut Schätzungen etwa zwanzigmal so groß wie jene Chinas. Sogar Frankreich soll mehr nukleare Sprengköpfe als die Volksbefreiungsarmee besitzen. Bei solch einer Disparität an Waffensystemen machen Abrüstungsverhandlungen laut Peking wenig Sinn. Die USA haben es in Wirklichkeit auf die Reduzierung von Chinas 1600 landgestützten und mit regulären Sprengköpfen ausgestatteten Mittelstreckenraketen abgesehen, die im Kriegsfall in Ostasien amerikanische Flugzeugträger und Stützpunkte zerstören könnten.

Putin hingegen plädiert für die Verlängerung von „New Start“. Russland kann sich ein strategisches Wettrüsten im Zeitalter von Covid-19 nicht leisten. Dennoch präsentierten die russischen Streitkräfte erst vor Kurzem eine neue Nukleardoktrin, die klarmacht, dass Russland auch in Zukunft nicht vor dem Einsatz von Atomwaffen im Kriegsfall zurückschrecken wird. „New Start“ könnte also bald das gleiche Schicksal wie der 2019 aufgekündigte INF-Vertrag über das Verbot landgestützter nuklearfähiger Kurz- und Mittelstreckenwaffen ereilen. Scheitern die Verhandlungen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ab Februar 2021 die Welt zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten ohne Atomwaffenkontrolle dasteht.

Neues Wettrüsten

Das neue nukleare Wettrüsten hat jedoch längst begonnen. Die USA und Russland modernisieren seit Jahren bereits ihre Atomwaffenarsenale. Tatsächlich konnte US-Präsident Barack Obama 2010 dem Kongress nur eine Zustimmung zu „New Start“ abringen, in dem er versprach, die „nukleare Triade“ (ballistische Raketen-U-Boote, strategische Bomber und Interkontinentalraketen) in den nächsten 30 Jahren für 1,2 Billionen Dollar zu modernisieren. Russland präsentierte 2018 eine Anzahl von neuen strategischen Waffensystemen in Entwicklung, wie den nuklear bestückten Überschallsprengkopf „Avangard“ und einen Interkontinental-Torpedo, der ganze Marinestützpunkte auslöschen soll. Der Hintergrund: Russland ist besorgt, dass reguläre ballistische Raketen von der amerikanischen Raketenabwehr zerstört werden können, was die sogenannte nukleare Abschreckung gefährdet.

Ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor, der die Großmächte zu mehr Atomwaffen treibt, sind Attacken aus dem Cyberspace. Die USA haben schon jetzt die Fähigkeit, Steuerungssysteme von Atomwaffen durch Cyberangriffe zu manipulieren oder zu zerstören. Laut Quellen aus dem Pentagon wurden so nordkoreanische Testraketen nach dem Start von ihrer programmierten Flugbahn abgebracht. Das erzeugt die Furcht auf russischer Seite, dass im Ernstfall auf Teile des russischen Nuklearwaffenarsenals nicht Verlass ist. Dies erhöht den Druck, in einer Krise als Erster loszuschlagen.

Wer auch immer die US-Wahl gewinnt, wird er am 19. Jänner als Präsident eingeschworen. Knappe zwei Wochen später läuft „New Start“ aus. Russland braucht laut eigenen Angaben rund 45 Tage, um eine Vertragsverlängerung zu ratifizieren.