Der Hinweis war deutlich vernehmbar. „Vergiss nicht, vorher mit uns zu reden“, rief Kanzlerin Angela Merkel auf dem jüngsten EU-Gipfel im Vormonat Kommissionschefin Ursula von der Leyen kurz vor dem Ende der Videoschaltung zu. An diesem Mittwoch will von der Leyen ihren Vorschlag für den nächsten EU-Haushalt präsentieren. Zentrales Element: ein Fonds für den Wiederaufbau des coronakrisengeschüttelten Europa.
Die Grundzüge des neuen Rettungsfonds deuten sich schon an. In einer gemeinsamen Videopressekonferenz hatten Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der Vorwoche ihre Vorstellungen für den Aufbaufonds präsentiert. „Danke, Angela“, schloss Macron und Merkel verabschiedete sich mit „au revoir“. So viel Einmütigkeit zwischen Paris und Berlin war in den vergangenen Jahren selten.

Merkel und Macron geben die Richtung vor. Europa ist jetzt ein Fall für zwei. Der deutsch-französische Plan in Kürze: ein Fonds über 500 Milliarden Euro, der „keine Kredite, sondern Ausgaben für die am stärksten betroffenen Sektoren und Regionen bereitstellen soll“, so Merkel. Was sperrig klang, ist nicht weniger als eine europapolitische Kehrtwende der Kanzlerin. Zuschüsse – keine Kredite – soll die EU für den Aufbau vergeben. Eine echte europäische Revolution. Und das ist noch nicht alles. Die EU-Kommission soll das nötige Geld als Kredit aufnehmen. Ein Novum. Für das Darlehen bürgen die EU-Staaten. Ist das nicht die Schuldenunion, vor der viele warnten?

Protest in Merkels Union blieb aus. Merkel und die CDU sind in Coronazeiten beliebt wie lange nicht. Von einem „kühnen Schritt in die richtige Richtung“ sprach Merkels alter Widersacher Wolfgang Schäuble, der als Finanzminister in der Eurokrise gegen Griechenland noch den harten Kurs der Konditionalität durchgesetzt hatte. Und Bayerns Markus Söder ließ Österreichs Kanzler Sebastian Kurz auf dem Parteitag der CSU abblitzen. „Eine einzige Provokation“, nannte Norbert Röttgen, Mitbewerber um den CDU-Vorsitz, den Gegenvorschlag aus Österreich, Dänemark, Schweden und Holland. „Spiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“ empörten sich über „die geizigen Vier“.

Für Europa geht es längst ums Ganze. „Wir wissen, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Virus den Zusammenhalt der EU gefährden“, hatte Merkel in der Videokonferenz mit Macron erklärt. In persönlichen Videorunden hatten sich Kanzlerin und Präsident zusammengerauft. Macron hatte noch vor Wochen gemeinsam mit Italien und Spanien 1,5 Billionen Euro für den Aufbau gefordert. Auch Corona-Bonds hatte der Süden angemahnt. „Wenn du auf Corona-Bonds wartest, die werden nicht kommen“, hatte Merkel Italiens Premier Giuseppe Conte auf dem jüngsten EU-Gipfel beschieden.

Die „härteste Herausforderung in der Geschichte der EU“ (Merkel) ließ die Kanzlerin umdenken. Macron lenkte in der Höhe der Hilfen ein, Merkel in der Frage Zuschüsse und Schulden. Immerhin sind Letztere zeitlich befristet. Ein Zugeständnis an das deutsche Verfassungsgericht. Das hatte zuletzt harte Auflagen für die Anleihekaufprogramme der Europäischen Zentralbank (EZB) verkündet und sich damit über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hinweggesetzt. Ohne EZB-Programme drohte Europa nicht nur eine konstitutionelle Krise.

Auch das habe Merkel zum Umdenken bewogen, heißt es. Mehr aber noch das schiere Ausmaß der Krise. Deutschland musste erkennen, dass allein in Europa kein Staat zu machen ist. Von Exporten ganz zu schweigen.

Deutsch-französischer Impuls für ganz Europa

„Wenn Deutschland und Frankreich einen Impuls geben, dann ist das etwas, was die Meinungsfindung in Europa befördert“, sagte die Kanzlerin. Das klang fast nach der alten Bonner Republik. In der Europapolitik hatte Merkel nie das Pathos eines Helmut Kohl erkennen lassen. Für die Protestantin aus der Uckermark war die EU Kopfsache, für den Katholiken aus dem Grenzland Pfalz war Europa stets eine Herzensangelegenheit.

Mit dem Aufbaufonds vollzieht nicht nur Merkel eine europapolitische Wende. Seit Gerhard Schröder sich als Kanzler und SPD-Chef am „dritten Weg“ von Premier Tony Blair orientierte, hatte sich Deutschland in Brüssel gern hinter Großbritannien versteckt. Mit dem Brexit ist das vorbei. So sortiert sich Europa neu entlang der Linie Paris–Berlin.

Der „Aufstand“ von Sebastian Kurz und den anderen drei Mitgliedsländern wird nicht als Revolte wahrgenommen. Sorgsam wird stattdessen registriert, was das Team Kurz nicht ausschließt: das Recht der EU auf eigene Schulden. Am Mittwoch wird Ursula von der Leyen ihren Plan präsentieren. Als Ministerin diente sie einst Angela Merkel, zur Kommissionspräsidentin beförderte sie Emmanuel Macron.

So lautet die eigentliche Lektion der Geschichte: Das alte europäische Tandem Paris–Berlin ist zurück. Wie praktisch, dass Deutschland im Juli den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Merkel hat in Europa noch einiges aufzuholen.