Der Bildungsbereich hat in den letzten Monaten ein digitales Real-Experiment bewältigen müssen, das es noch nie gegeben hat. Die Dekanin Ihres Informatik-Instituts meinte, wir müssten uns künftig als Gesellschaft überlegen, ob wir noch von einem Termin zum nächsten eilen wollen. Werden wir noch wollen?
SABINE SEIDLER: Ich denke, dass wir gelernt haben, mit digitalen Formaten ganz anders umzugehen. Da werden wir einiges mitnehmen. Wir haben auch gelernt, dass Videoformate gut in eingespielten Teams funktionieren und dass sie nicht funktionieren, wenn eine Situation ein soziales Gespür erfordert oder man sich erst kennenlernt.

Digitale Hörsäle und leere Studentenheime, weil Studenten zu Hause in Bruck oder Spittal bleiben, wird es also nicht geben.
Nein, es wird Mischformen geben. Digitale Hörsäle werden aber ein probates Mittel sein, um überfüllten Hörsälen vorzubeugen und der große Vorteil für Studierende wird sein, dass sich Vereinbarkeitsthemen leichter lösen lassen werden.

Verraten Sie, ob Erfahrungen aus der Krise auch in Ihrem Leben etwas verändern werden?
Ja, ich werde meinen Arbeitsalltag umstellen und eine Kombination aus analogen und digitalen Formaten verwenden. Ich habe gelernt, dass viele operative Dinge auch funktionieren, wenn ich mich nicht direkt einmische. Manche Treffen werden wir künftig digital abhalten.

Eine Studie der Uni Wien zeigte, dass im Lockdown Frauen verstärkt in ihre traditionellen Rollen zurückgeworfen wurden. Beim Festakt 100 Jahre Frauenstudium an der TU Wien haben Sie gleiche Arbeitsbedingungen für Männer und Frauen gefordert und gemeint, dass wir davon noch weit entfernt sind. Warum?
Ich glaube, dass der gesellschaftliche Wille dafür noch nicht vorhanden ist. Wir sind sehr stark in tradierten Rollenbildern verhaftet und das hat auch auf den universitären Bereich Auswirkungen. Universitäten sollten fortschrittlich sein, aber unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leben trotzdem in ihrem gesellschaftlichen Umfeld mit entsprechenden Erwartungshaltungen. Das ist das eine, das andere ist, dass wir auf der gesetzlich organisatorischen Ebene noch einiges tun könnten. Der Papamonat ist ein wichtiger erster Schritt, aber nicht mehr. Es braucht mehr als einen Monat, in dem der Papa einmal mit Kindern Urlaub macht. Ich glaube, dass Frauen aber auch zu wenig sensibel hinsichtlich der Konsequenzen von Teilzeit sind.

Was wäre die Lösung?
Ich denke, dass sich Eltern die Karenzzeiten teilen sollten.

Also Teilzeitfalle für beide?
Wenn beide je 30 Stunden arbeiten, ist das eine kleinere Falle als wenn einer nur zehn Stunden arbeitet. Wir haben an der Uni Frauen, die in Karenz gehen und junge Männer, von denen auch bei uns von einigen erwartet wird, dass sie nicht in Karenz gehen. Wie überall auch. Dieses tradierte Rollenbild gilt es zu überwinden.

Auch mit Quoten?
An den Universitäten haben wir mit Quoten relativ starke Fortschritte gemacht. Ich bin zwar im Prinzip gegen Quoten, weil ich dazu neige, an die Vernunft des Menschen zu glauben, aber ich sehe, dass wir ohne Quote nichts weiterbringen.

Sie haben zwei Töchter und immer Vollzeit gearbeitet. Wie schwer war es, beides zu vereinbaren?
Mein Mann und ich waren immer ein Team, ohne gute Arbeitsteilung wäre es nicht gegangen. Als meine älteste Tochter geboren wurde, studierte mein Mann noch und ich musste schon deshalb berufstätig sein, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Ich musste meine Tochter mit fünf Monaten in die Krippe geben und das war wirklich hart. Ich hatte aber nie das Gefühl, dass mein Kind dort schlecht betreut ist.

Und zum Stillen sind Sie in die Krippe gefahren?
Ja, zweimal am Tag. Das wünsche ich aber niemandem.

Sie waren die erste Rektorin der TU-Wien. Welche Signal- und Vorbildwirkung, glauben Sie, haben Sie damit auf Studentinnen?
Das weiß ich nicht. Bei Diskussionen werde ich gefragt, wo denn ich bleibe. Ich beobachte auch bei jungen Frauen, dass sie sich in ihre Rolle als Mutter so verlieben, dass sie das Andere aus den Augen verlieren.

Was antworten Sie auf die Frage, wo Sie als Mensch bleiben?
Ich sage: Das ist mein ICH. Ich brauche nicht ein Ich in der Freizeit, Familie, im Beruf. Es geht doch um das Gesamtpaket.

Der Anteil der Frauen bei Maschinenbau ist gering. Was ist der Grund? Geschlechtsspezifische Sozialisation?
Es hängt mit den Bildern zusammen, die wir in den Köpfen haben. Und was es heißt, wenn Papa sagt: Maschinenbau ist etwas für Buben. Dazu kommt die schlechte Vorbereitung auf technische Studien für Mädchen wie Burschen. Wir sehen, dass gerade naturwissenschaftliche Fächer in der Ausbildung nicht jenen Stellenwert genießen, den sie haben sollten, um auf solche Studien gut vorzubereiten.

Und das ist der Grund, warum beim Medizin-Aufnahmetest mehr als 50 Prozent Frauen antreten?
Es ist nachgewiesen, dass junge Frauen stärker nach Studienrichtungen suchen, die mit gesellschaftlicher Verantwortung zu tun haben. Wir müssen uns aber auch an der eigenen Nase ziehen und fragen, welche Bilder eines Studiums wir vermitteln. Und wir müssen die Barriere im Kopf gegenüber Mathematik abbauen.

Beim Medizin-Aufnahmetest haben es vor einigen Jahren mehr Burschen als Mädchen geschafft, worauf die Genderbeauftragte eine unterschiedliche Punktevergabe für Frauen einführte. Was haben Sie davon gehalten?
Es war wichtig, sich mit dem Verfahren auseinanderzusetzen, aber wenn man etwas anders bewertet, frage ich mich als Naturwissenschafterin: Bitte auf welcher Grundlage? Das war schlecht für die Frauen.

Fassungslos sollen Sie auch gewesen sein, als Studentinnen an der Angewandten einen Auftritt von Alice Schwarzer verhindern wollten.
Ich halte das für unpackbar, dass man an Universitäten nicht mehr diskutieren will mit der Begründung, es gebe eine Überrepräsentanz einer Frau. Was ist das für eine Weltsicht? Ich war wirklich fassungslos, weil es unser Ziel ist, dass Studierende sich zu kritischen Menschen weiterentwickeln. Dazu gehören Auseinandersetzungen.

Für Auseinandersetzung sorgte auch Ihre Forderung, dass fünf Prüfungsantritte zu viel seien. Sind das wirklich die vordringlichen Probleme der Unis?
Wenn sich jemand mehrere Jahre durch ein Studium gequält hat, muss er begreifen, dass es Zeit ist aufzuhören. Das trifft nur auf eine Minderheit zu.

Warum wollen Sie es dann überhaupt ändern?
Weil ein Studierender nach Jahren begreifen muss, dass es Zeit ist aufzuhören. Da geht es mir um den jungen Menschen, auch wenn das von Studierendenvertretern so nicht gesehen wird. Wir müssen darauf achten, dass Studierende erkennen, wo ihre Grenzen sind und dies dann nicht als Niederlage sehen.

Die Zahl der prüfungsaktiven Studierenden muss jetzt als Gegenleistung zu 360 neuen Professorenstellen steigen. Ist der Spagat bei gleichzeitig sinkenden Studentenzahlen schaffbar?
Das werden wir sehen, im Moment sieht es so aus, als wäre er nur sehr schwer zu schaffen.

Der Wissenschafter des Vorjahres, Nuno Maulide, meint, es gebe in Österreich eine Tendenz, dass immer alle von allem profitieren müssten, es brauche aber Prioritäten. Stimmen Sie zu?
Zu hundert Prozent. Das Wort Elite ist doch verpönt, das darf man nicht verwenden, schon gar nicht gegenüber Studierenden. Dabei ist es unsere Aufgabe, die Besten auszubilden. Wir müssen Programme schaffen, die besonders Talentierte zusätzlich fördern, damit sie nicht im allgemeinen Sumpf mit fünf Prüfungsantritten untergehen.

Wo würden Sie Österreichs Universitäten international ansiedeln?
Ich glaube, dass Österreich im Biotech-Bereich, in der Quantenphysik und einzelnen Bereichen der Sozial- und Geisteswissenschaften mit Sicherheit Weltspitze ist. Das sieht man nicht immer richtig, aber es ist so. Es gibt andere Bereiche wie Ingenieurswissenschaften, in denen wir gut mitspielen. Natürlich müssen wir schauen, womit wir uns vergleichen. Ich kann nicht eine Universität Wien mit Stanford vergleichen.

Wenn Sie nach oben blicken, schauen Dutzende Ex-Rektoren auf Sie herab. Was ist das für ein Gefühl, als erste Frau einmal in dieser Galerie zu hängen?
Ich möchte da nicht hängen.

Es ist schon wegen der Vorbildwirkung als erste Frau wichtig.
Das ist richtig, mein Bild wird deshalb dort hängen, aber ich habe keine Freude damit. Das bin nicht ich.