Ehrfurcht kommt auf. Schließlich steht man auf stolzen 2150 Metern Seehöhe und blickt gut 2000 Jahre alten, mannshohen Köpfen, die direkt aus dem Boden sprießen, ins steinerne Antlitz. Dazugehörige kolossale Steinkörper in Sitzhaltung, die einst bis zu neun Meter hoch gewesen sein sollen, posieren etwas fernab von ihnen. Die Szenerie des Bergs Nemrut, einer der Höhepunkte der 19 Unesco-Welterbestätten der Türkei im Südosten Anatoliens, mutet fast skurril an, die Augenweide rundum überwältigt.

Das wilde, kahle Bergland, Teil des einstigen Mesopotamiens, liegt einem zu Füßen, jenes Zweistromlandes zwischen Euphrat und Tigris, das als biblisches Ursprungsland der Menschheit wie als Wiege der Schrift, des Rades, der Zivilisation mystische Anziehungskraft ausübt, jenes Fleckens Erde, der immer wieder rumort, zuletzt erst mit verheerenden Folgen und Tausenden Toten.

Die Nekropole Perrhe umfasst hunderte Felsengräber
Die Nekropole Perrhe umfasst hunderte Felsengräber © RRK

Größenwahn eines selbsternannten Gottes

Rund um den Berg Nemrut erblühte ab Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus für kurze 230 Jahre das kleine Königreich Kommagene. Und dessen König Antiochos I., Nachkomme eines persischen Königs und des griechischen Herrschers Alexander des Großen, setzte sich und der von ihm erträumten Synthese aus griechisch-persischer Mythologie hier auf dem höchsten Gipfel des auslaufenden Taurusgebirges ein einzigartiges Denkmal. Zwei Kultterrassen am Fuße seines Grabhügels ließ er zur Bühne von Götter- und Herrschergestalten werden. Er selbst gab sich den Beinamen „Theos“ – Gott.

Es ist also seinem Größenwahn zu verdanken, dass der Berg Nemrut zu den ehrgeizigsten und aufschlussreichsten Bauwerken der hellenistischen Zeit zählt. Mancherorts wird auch vom achten Weltwunder gesprochen. Dass sich dieses heute als kopf- und körperloses „Kuddelmuddel“ von magischer Schönheit präsentiert, ist der Witterung, den Erdbeben und eventuell feindlichen Attacken über die Jahrtausende geschuldet.

Die römische Brücke über den Fluss Cendere
Die römische Brücke über den Fluss Cendere © RRK

Römer waren natürlich auch hier

Ebenso in der Provinz Adiyaman, die schwer vom aktuellen Erdbeben getroffen wurde, überwältigt die antike Nekropole Perrhe. Mystisch muten die Hunderten Felsengräber an, die immer wieder mit Sensationsfunden aufwarten. Erst 2021 wurde ein tausend Jahre altes Skelett freigelegt, ein paar Jahre zuvor ein 1800 Jahre alter römischer Mosaikboden.

Apropos Römer: Mit ihnen kann man auf der nahen, magisch schönen Cendere-Brücke, einem der am besten erhaltenen Bauwerke dieses Volkes in der heutigen Türkei, auf Fußfühlung gehen. Einst wurde sie mit vier Säulen errichtet, die dem damals herrschenden Kaiser Septimius Severus, seiner Gattin und deren beiden Söhnen gewidmet waren. Dann tötete ein Bruder den anderen und dessen Säule wurde in pragmatischer Brudermord-Manier gekappt. Mögen die drei verbliebenen Monumente heute noch stehen.

Guide Korkmaz ist auf das Weltkulturerbe Arslantepe stolz
Guide Korkmaz ist auf das Weltkulturerbe Arslantepe stolz © RRK

Aprikosen und Ausgrabungen am Löwenhügel

Rund 120 Kilometer nördlich, in der ebenso schwer erschütterten Provinz Malatya, liegt das „Land der Aprikosen“. 70 Prozent der weltweit verkauften getrockneten Früchte stammen von hier. Die Aprikosenmärkte sind eines der Wahrzeichen, zudem sich neuerdings ein Weiteres gesellt: „Wir sind so stolz, 2021 als jüngstes türkisches Kind in die Unesco-Welterbeliste aufgenommen worden zu sein“, freut sich Guide Bülent Korkmaz. Auf dem „Löwenhügel“ Arslantepe schlummert größte Geschichte aus 5000 Jahre Besiedlungszeit und möglicherweise auch der erste Amtsschimmel, wie das Attribut „Wiege der Bürokratie“ kommuniziert.

Beweise für den ersten „Stadtstaat“ Anatoliens im 4. Jahrhundert vor Christus wurden und werden ergraben, bauliche Strukturen lassen auf gesellschaftliche Ordnungen und Hierarchien schließen. Hier liegen sie, Wurzeln der menschlichen Zivilisation. In diesem immer wieder und auch heute so schwer gezeichneten Land.