Zuletzt hat sich Christian Drosten gefügt. Rein sendetechnisch. Seit Februar macht der Forscher den Podcast „Coronavirus-Update“. „Wir können die Ausbreitung verlangsamen“, lautet der Titel der ersten Sendung. Mit unverwüstlichem Optimismus, viel Charme und großer Erklärungsgabe begleitet Drosten Deutschland seither durch die Corona-Krise. Millionenfach wird die tägliche Sendung im Netz abgerufen. Nun tritt Drosten kürzer. Nur noch zwei Mal pro Woche ordnet er die Lage im Podcast ein. „Ich lese manchmal vierzig, fünfzig Studien zur Vorbereitung“, sagt er über den Aufwand für eine Sendung. Keine Frage: Christian Drosten nimmt seinen Job ernst.

Vom Bauernhof ins Labor

Sein Job, das ist für den 48-jährigen Mediziner zum einen das Labor. Dann trägt der Mann mit den dunklen Locken und dem wachen Blick den weißen Forscherkittel. Seit drei Jahren ist Drosten Professor und Chef-Virologe an der Charité im Herzen von Berlin.

Das Haus ist Legende. Robert Koch hat dort im 19. Jahrhundert den Tuberkulose-Erreger entdeckt, Rudolf Virchow die Zellpathologie begründet. Anfang des Jahres entwickelt Drosten hier einen Corona-Test. „Was mich antreibt und motiviert, ist die unbekannte Diagnose“, umschreibt er seinen Forscherdrang.

Drosten ist auf einem Bauernhof im Emsland aufgewachsen, einer katholischen Region an der Grenze zu Holland. Das erdet. Er studiert zunächst Chemie und Biologie, wechselt dann zur Medizin. Als junger Arzt entschlüsselt er 2003 das Sars-Virus, einen Vorläufer von Covid-19. Sofort stellt er seine Ergebnisse ins Netz. Transparenz ist ihm wichtig. Und hier beginnt der zweite Teil von Drostens Arbeit. Der Mann ist mehr als nur Labormensch. Er weiß: In Zeiten des Zweifels muss sich Wissenschaft erklären. So wird Drosten im Nebenberuf Deutschlands Chef-Erklärer in Corona-Zeiten.

Der Virenversteher als Kanzlerberater

Sein Podcast entspringt einem kommunikativen Defizit. „Ich hab bald gemerkt, dass in der Krise viel verloren geht“, sagt Drosten über die Verkürzungen in Medien. Auch seine Frau ist genervt, wenn er das Frühstück verlässt, um Interviews zu geben. So hat Drosten mit den ARD-Journalistinnen Korinna Hennig und Anja Martini einen eigenen Podcast gestartet. Einzige Bedingung: Er darf ausführlich reden. Mitunter minutenlang. Komplexes will eben erklärt werden. Das klingt dann mal so: „Bei Influenza ist es so, dass es im Zytokinmuster der Immunzellen der Lunge eine Spur der Verwüstung hinterlässt.“ Drosten kann aber auch anders. Dann sagt er: „Wir erleben eine Naturkatastrophe, die in Zeitlupe abläuft.“

Jedes Land hat in der Krise seinen Viren-Versteher. In den USA darf Anthony Fauci ungestraft dem Präsidenten widersprechen. In Frankreich pocht der druidenhafte Didier Raoult auf das umstrittene Mittel Hydroxychloroquin. In Deutschland setzt Christian Drosten auf die Kraft des Arguments. Das macht ihn für eine interessant, die ebenfalls auf Erkenntnis statt auf Impuls setzt: Kanzlerin Angela Merkel.

Bald sitzt Drosten nicht nur in Talkshows, sondern in Anzug und leger geknöpftem Hemd auch vor der blauen Wand der Bundespressekonferenz im Berliner Regierungsviertel. Großveranstaltungen? Ein Verbot sei sinnvoll, sagt Drosten und die Regierung setzt sie ab. Auch zum Lockdown rät er. Und erntet Kritik. „Für viele Deutsche bin ich der Böse, der die Wirtschaft lähmt“, so Drosten. Der Wissenschaftler lebt mit Lebensgefährtin und kleinem Kind im Prenzlauer Berg. Für seine Gegner passt das ins Bild.

„Biedermaier-Bionade“ hat „Die Zeit“ das Milieu im grün-bürgerlichen Kiez im Berliner Osten mal umschrieben. Für Drosten zählt Pragmatismus und die Nähe zur Charité. „Das Leben ist anders, wenn man nicht im Stau steht, wenn man jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt und doch alles findet, was man braucht“, sagt er.

Der Mann vom Land hat „irgendwann gemerkt, dass eine große Stadt ein Stimulus ist, den ich im Leben brauche – und da ist Berlin die interessanteste Stadt in Deutschland“. Selbst, wenn er sich wundert, wie sehr er mit Mundschutz im Supermarkt anfangs andere verstört. Auch das Staunen über die Alltagswelt gehört zu einem erfolgreichen Forscher. Zur Regierung geht Drosten längst auf Distanz. Er hätte den Lockdown gern verlängert. Auch mit Kollegen beharkt er sich. Virologe Hendrick Streeck veröffentlicht vorab Ergebnisse zu einer Studie im Corona-Hotspot Heinsberg. CDU-Mann Armin Laschet deutet das als Beleg für sein Drängen nach Lockerungen. Die Studie wird von der PR-Agentur des Ex-Bild-Chefs Kai Diekmann begleitet, von der Wirtschaft soll Geld geflossen sein.

Credo der Transparenz

Das entspricht nicht Drostens Credo der Transparenz und reinen Lehre. Er zerlegt die Studie. Für die Medien ist es ein Streit zwischen Merkel und Laschet. Für Drosten angewandte Wissenschaft. Diskurs gehört zur Forschung. „Nicht plausibel“, heißt das in seiner Sprache.

Doch auch der Meister kann irren. Manche Position muss Drosten wissenschaftlich räumen. Irren ist nicht nur menschlich. Es gehört zur Wissenschaft. Nur muss man sich Fehler eingestehen. Drosten kann das. Seine Fans loben ihn dafür. Seine Kritiker nehmen ihm nicht nur das übel. Selbst Morddrohungen hat es gegeben. These, Falsifizierung – was klingt wie ein Schnellkurs in Wissenschaftstheorie, ist zur politischen Grundsatzfrage geworden. Eine bunte Querfront macht mobil gegen Corona-Maßnahmen, Regierung und die Erkenntnisse der Forschung. „Jetzt ist Alltagsverstand gefragt“, entgegnet Drosten den Verschwörungsfanatikern.

Längst geht es um mehr als Corona. Drosten steht dafür symbolisch. Es geht um zwei Kulturen: Worauf soll sich Politik als Kunst des Zusammenlebens gründen – auf der Wut des Instinkts oder auf der rationalen Kraft des Diskurses. Drosten setzt auf die Macht der Vernunft. „Wenn man überhaupt verhandelt, dann mit der Natur“, sagt er ganz in der Tradition der Aufklärung. Klugheit trotzt der Wut. Deshalb ist Drosten mehr als ein Posterboy der Wissenschaft. Er ist längst ein Verteidiger der liberalen Freiheit.