Science-Fiction gehört zu den populärsten Literatur- und Filmgenres. Die Unterkategorie "Near Future" begeistert in Streaming-Produktionen in jüngerer Zeit besonders. Man denke an düstere Serien wie "Black Mirror", die pro Folge meist eine einzelne technische Neuerung als Horrorvision durchexerziert, aber auch an "Der Schwarm" oder den neuen Netflix-Thriller "Paradise". Warum sind solche – in naher Zukunft spielende – Schreckensvisionen bei Millionen Menschen so beliebt?

"Das Genre 'Near Future' konzentriert sich darauf, Zukunftsszenarien aufzuzeigen und ihre Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft durchzuspielen", sagt die Politikwissenschaftlerin Isabella Hermann, die vor Kurzem das Buch "Science-Fiction zur Einführung" herausgebracht hat. Die Gegenwart werde damit kritisch hinterfragt und das Publikum zum Nachdenken angeregt.

"Aktuelle Herausforderungen werden meist ins Negative extrapoliert, etwa Entmenschlichung durch fortschreitende Technik oder die Gefährdung von Demokratie und Freiheit durch Populismus", sagt Hermann. "Dieses Weiterspinnen von technischen Trends ins Negative, um zum Nachdenken anzuregen, entwickelt mitreißende Dramaturgien, fesselt die Leute mit Angstlust oder 'Disaster Porn'."

In den vergangenen Jahren gab es aufsehenerregende Polit-Sci-Fi wie "The Handmaid's Tale – Der Report der Magd" oder "Years and Years", die Kometen-Komödie "Don't Look Up" mit Jennifer Lawrence und Leonardo DiCaprio, Stromausfallserien wie "Blackout" und "Alles finster", das Asteroidenformat "8 Tage" oder die Seuchenserie "Sløborn".

Near-Future-Thriller dieser Art spielen in einer greifbaren Zukunft, also in den nächsten zehn bis 50 Jahren – und nicht etwa im Jahr 3000. Sie sind eingebettet in eine Welt, die sich aus heutigen Entwicklungen ableiten lässt und tatsächlich möglich und plausibel erscheint. Themen sind dann etwa Überwachung und Künstliche Intelligenz (KI). Auch Stanley Kubricks Weltraumepos "2001: Odyssee im Weltraum", in dem sich eine KI (der Supercomputer HAL 9000) scheinbar bösartig gegen Menschen wendet, ist demnach ein Near-Future-Film aus Sicht des Erscheinungsjahres 1968.

"Bei Near-Future-Science-Fiction gibt es einen schmalen Grat zwischen einer überzeugenden Darstellung der nahen Zukunft und einer unglaubwürdigen, peinlichen Vorhersage", sagt Expertin Hermann. "Mit dieser Problematik müssen sich Autorinnen und Autoren, die ihre Geschichten in einer weiter entfernten Zukunft ansiedeln, nicht herumschlagen – wobei es da natürlich auch peinlich werden kann. Jedenfalls erfordert es ein gutes Verständnis aktueller Trends und eine sorgfältige Balance zwischen Innovation und Plausibilität, um eine glaubwürdige und fesselnde Geschichte zu erschaffen."

Traditionell stark erscheinen heute in der Science-Fiction die Kulturindustrien der USA und Großbritanniens, doch Hermann betont, dass es eine Tradition auch in Staaten der früheren Sowjetunion und osteuropäischen Staaten gebe, dass heute einiges aus Lateinamerika, Asien und Afrika komme und dass etwa auch Frankreich mit Near-Future-Produktionen punkte (beispielsweise "Ad Vitam", "Trepalium – Stadt ohne Namen", "Im fremden Körper").

"Near Future" zeige meist Dystopien (Zukunft mit negativem Ausgang). Mitreißende Utopien (optimistische Zukunftsfiktionen) seien dagegen eher selten, sagt Hermann. "Eine positive Welt zu zeigen, das ist ungleich schwerer umzusetzen. Weil der Konflikt der Geschichte nicht durch die negative Entwicklung erzeugt werden kann und sich somit größere Herausforderungen an Plot und Personenzeichnung ergeben."

Auffällig in diesem Zusammenhang: Utopien werden jetzt gern mal in die Vergangenheit verlegt, was Fachleute dann als Genre "Alternate History" nennen. Prominenteste Beispiele dafür sind wohl Shonda Rhimes' Netflix-Serien "Bridgerton" oder "Queen Charlotte: Eine Bridgerton-Geschichte", die – mit einer schwarzen britischen Königin – in einer diversen Version der Regency-Ära im 19. Jahrhundert spielen.