Es sind Bilder, die so irreal wirken, dass das Hirn auf "Error" schaltet. Passagierflugzeuge, die, anstatt auszuweichen, auf die Zwillingstürme von Manhattan zusteuern. Menschen, die springen. Von den Etagen ganz oben. In den Tod. All das eingefangen von Überwachungs- und Fernsehkameras, in bester Bildqualität; für immer eingegraben ins kollektive Gedächtnis. "Nichts wird mehr so sein, wie es war", titelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ damals. Von einer "Kriegserklärung an die Menschheit", sprach die "Bild". Als Mohammed Atta seinen Flieger ins World Trade Center steuerte, griff er nicht nur die Türme an. Die Islamisten zielten auf die Hegemonie der USA, auf das freie, westliche Lebensmodell, das ihren kruden Vorstellungen widersprach.

Zeitenwende?

Heute, zwei Jahrzehnte später, bleiben die Angriffe und das Alarmgefühl von damals eigenartig präsent. Und doch: In der Rückschau hat sich in unserer Wahrnehmung etwas verrückt. Nicht nur, weil die Taliban, die Terrorchef Osama bin Laden, dem Drahtzieher von 9/11, einst Unterschlupf boten, heute in Kabul an der Macht sind, Die Terroranschläge haben die Welt verändert. Doch waren sie wirklich diese Zeitenwende, für die wir sie damals hielten?



Einiges geschah in ihrer Folge, das neu war: Der UN-Sicherheitsrat verurteilte die Anschläge als eine "Bedrohung des Weltfriedens". Die Nato beschloss am 4. Oktober zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall. Der islamistische Terror rückte von einem Tag auf den anderen an die Spitze der internationalen Sicherheitspolitik.

Doch keine Ausnahme

Noch wenige Jahre zuvor, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges, hatte der Politologe Francis Fukuyama vom "Ende der Geschichte" geschrieben. Er irrte. Das Gelingen eines derart unglaublichen Terrorplans wie 9/11 erschütterte das sieggewohnte Amerika bis ins Mark. "Der 11. September zerstörte unseren Traum, vom Lauf der Geschichte ausgenommen zu sein", kommentiert der "Atlantic" den Umbruch. Gut möglich, dass der Knall des Aufpralls der Flugzeuge noch 15 Jahre später in Donald Trumps Versprechen nachklingt, "Amerika wieder groß zu machen".

George Bush spürte den Bruch im nationalen Selbstverständnis. Er fand keine andere Antwort darauf außer Vergeltung. Die Welt teilte sich in Gut und Böse. Afghanistan und der Irak bekamen die ganze Macht der amerikanischen Militärmaschinerie zu spüren. Erst die Feldzüge in Folge der Anschläge zeigten weltweite Wirkung.

Die Schande

Doch nicht die, die Bush erhoffte. Die vielen Toten, die fadenscheinigen Begründungen der USA für den Irak-Krieg, die Bilder von US-Soldaten, die knieende Gefangene an der Leine führten, von in orange Anzüge gesteckten Gefangenen in Guantanamo, die Berichte vom Waterboarden erschütterten den Glauben der Welt an ein Amerika, das für Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaat steht – auch wenn Folterer später zur Verantwortung gezogen wurden.

Eingetreten ist nicht das Ende der Geschichte, sondern das Ende der Illusionen. Es mag mit dazu beigetragen haben, dass bei manchen heute Autokraten wie Putin hoch im Kurs stehen. Barack Obama versuchte 2009 in seiner „Rede an die islamische Welt“ gutzumachen, was zerbrochen war, mit mäßigem Erfolg. Zugleich ist die notwendige Auseinandersetzung mit der Radikalisierung des Islams in vielen Köpfen und Regionen der Welt nur mäßig vorangekommen.

Imperiale Arroganz

Gewonnen wurden indes ein paar Gewissheiten. Mit imperialer Arroganz und Militärmacht lässt sich in anderen Ländern kein Paradies auf Erden machen. Die USA scheinen unfähig, erfolgreich zu intervenieren – in Afghanistan wie lange davor schon in Vietnam. Entwicklung muss, höchst wahrscheinlich, von innen kommen. Bedeutet das, dass Interventionen immer falsch sind? Was wäre aus Österreich geworden, hätten die USA nach dem Zweiten Weltkrieg nicht eingegriffen? Endgültige Antworten bringt auch das Desaster in Afghanistan nicht. Die USA sind nicht mehr die unbestrittene Supermacht, die sie vor 9/11 waren. Doch das liegt weniger an Mohammed Atta, als an Fehlentscheidungen der Amerikaner selbst.

Die am stärksten bewaffnete Islamisten-Armee, die wir je sahen

Vieles geschah in der Zwischenzeit, das auch ohne den Einbruch der Türme geschehen wäre: der Aufstieg Chinas, der Krieg in der Ukraine und die erneute Konfrontation zwischen Ost und West, der arabische Frühling. Zum Jahrestag von 9/11 wollte sich Joe Biden feiern lassen für die Heimholung der amerikanischen Truppen. Dazu passen jetzt die Bilder aus Kabul wenig – den neuen, alten Herrschern fällt nun modernstes Kriegsgerät in die Hände, an dem die USA zuvor afghanische Soldaten trainiert hatten. Wenn’s schlecht läuft, und das ist in diesem Fall leider wahrscheinlich, wächst in Afghanistan die bestbewaffnete islamistische Macht heran, die wir je sahen.

"Smart Power"

Zugleich wird deutlich, dass sich eine andere Art von Zäsur gerade jetzt, zum Jahrestag, in die Welt schiebt: Die USA wollen nicht mehr in anderen Ländern in den Krieg ziehen, wenn sie nicht direkt bedroht sind, erklärte Biden. Wenn er sich dran hält, könnte es der Anbruch werden einer Zeit, in der "Smart Power" wieder zählt – die Fertigkeiten der Diplomatie, der Verhandlungen, die militärischer Stärke vorangestellt werden. Die Zeit der Einmischung ist vorbei. Klingt gut – doch was bedeutet der Rückzug der USA als Ordnungsmacht der freien Welt im Falle eines Genozids? Einen Freibrief für die Schlächter und Diktatoren? Es bräuchte neue Lösungen, doch die haben wir noch nicht.

Der Terror ist nicht besiegt - gewonnen hat er dennoch nicht. Um die Balance zwischen Terrorbekämpfung, Überwachung und unseren Bürgerrechten wird im Rahmen unserer offenen Gesellschaften gestritten. Kunst und Satire greifen weiter die Themen auf, die sie wollen. Unseren Sinn für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Lebensbejahung und demokratische Werte konnte uns der 11. September und seine Nachahmer nicht nehmen.