Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck hält es für möglich, dass Russland nach dem Wartungsintervall der Gaspipeline Nord Stream 1 gar kein Gas mehr liefert. Auf die entsprechende Frage sagte er im RTL Nachtjournal am Donnerstag: "Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich befürchte es nicht." Deutschlands Finanzminister Christian Lindner meinte im ZDF, Gas sollte wegen der aktuellen Knappheiten nicht mehr für die Stromerzeugung verwendet werden.

Es werde zum Heizen und für bestimmte industrielle Prozesse benötigt, ergänzte Lindner. Bei komplett gefüllten Gasspeichern würde Deutschland ganz ohne Lieferungen aus Russland zweieinhalb Monate auskommen, erklärte der Chef der deutschen Bundesnetzagentur, Klaus Müller, gegenüber dem ZDF. Das gelte für einen durchschnittlich kalten Winter. Daraus folge, Deutschland brauche zusätzliche Lieferanten und müsse auch Gas einsparen.

Vorgeschobenes Problem

Habeck glaubt, dass das Argument technischer Probleme vom Kreml vorgeschoben sei, vielmehr handle es sich um eine politische Maßnahme. "Und wer weiß schon, was die nächste politische Maßnahme ist. Also, sorgenfrei bin ich da nicht." Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, dass sich die Gasrechnungen verdreifachten, sagte Habeck: "Das ist nicht auszuschließen (...) ja, das ist im Bereich des Möglichen." Es komme eine Preiswelle auf Deutschland zu, die faktisch nicht mehr abzuwenden sei.

Die reduzierten Lieferungen von russischem Gas könnten nach Einschätzung von Habeck auch als Zeichen für wirksame Sanktionen gegen Russland interpretiert werden. "Es ist richtig, Putin bekommt Geld durch den Verkauf fossiler Energien, aber er kann sich davon immer weniger kaufen, weil der Westen so viele Güter sanktioniert hat", erklärte Habeck in RTL Direkt laut einer Mitteilung des Senders. "Und weil er sich mit diesem Geld nichts mehr kaufen kann, sagt er: Dann brauche ich das Geld nicht mehr, und ich reduziere das Gas. Das ist auch ein Zeichen, dass die Sanktionen höchst wirksam sind."

Dominoeffekt

Habeck befürchtet angesichts der drohenden Gastnotlage einen Dominoeffekt hin zu einer schweren Rezession. "Das Risiko, dass Energieversorger möglicherweise in eine ökonomische Lage kommen, wo sie nicht mehr Geld am Markt aufnehmen können, um Gas einzukaufen" sei hoch, sagte Habeck in den ARD-Tagesthemen laut Vorabmeldung. Es müsse verhindert werden, "dass sie aus dem Markt rausfallen".

Er befürchte "eine Art Lehman-Brothers Effekt im Energiemarkt", der dann auch die Stadtwerke, die Wirtschafts- und Industrieunternehmen und die Verbraucher betreffe. "Und dann hat man einen Dominoeffekt, der zu einer schweren Rezession führen würde." Er werde dafür Sorge tragen, das zu verhindern, so Habeck.

Auch andere Routen gedrosselt

Russland aber auch auf zahlreichen anderen Kanälen den Gasfluss nach Europa gedrosselt. In Summe kommt deutlich weniger Gas nach Europa – auch deutlich weniger als sonst zu dieser Jahreszeit. Es sei eine "ernste und sehr angespannte Lage", sagt Carola Millgramm, Leiterin der Gas-Abteilung beim Energieregulator E-Control.

So liegt seit Ende April die Jamal-Pipeline, die über Polen nach Brandenburg führt, ganz trocken. Offizieller Grund dafür sind die russischen Sanktionen gegen das polnische Unternehmen Europol GAZ, Eigentümer des polnischen Teils der Jamal-Europa-Gaspipeline.

Derzeit ist eine Woche lang wegen Wartungsarbeiten die über die Türkei nach Südosteuropa führende Pipeline Turkstream ganz gesperrt. Das war schon länger angekündigt. Branchenexperten in Österreich hoffen, dass der Betrieb danach wieder aufgenommen wird. Aber eine Unsicherheit bleibt, obwohl damit Länder versorgt werden, die Russland freundlich gesinnt sind, wie die Türkei, Serbien und Ungarn. In Ungarn wird auch von der Politik betont, wie reibungslos die Gaslieferungen laufen – die Wartungsarbeiten werden in den staatlich kontrollierten Medien nicht einmal erwähnt. Auch in Serbien und der Türkei sind diese Wartungsarbeiten kein Thema.