Der Fall schockiert. In Graz-Wetzelsdorf entdeckte ein Nachbar am Dienstag die Leiche eines neugeborenen Buben auf einem Carport-Dach. Das Neugeborene dürfte kurz nach der Geburt aus dem Dachflächenfenster eines Wohnhauses geworfen worden sein. Darauf deutet auch das Ergebnis der Obduktion hin, das am Donnerstag bekannt wurde. Der männliche Säugling, 3016 Gramm schwer und 49 Zentimeter groß, kam demnach lebend zur Welt. Es sei aber davon auszugehen, dass der Bub nur sehr kurze Zeit gelebt hat, heißt es. Als Todesursache wird ein Schädelhirntrauma angenommen. Das heißt, das Neugeborene ist an der schweren Schädelverletzung erlegen, verursacht durch einen Sturz aus rund drei Metern Höhe auf das Carport-Dach.
Die 20-jährige Mutter ist geständig, wurde festgenommen und befindet sich nach einem Krankenhausaufenthalt mittlerweile in Untersuchungshaft in der Justizanstalt Graz-Jakomini. Aktuell wird das Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Mordes geführt, aber auch der Tatbestand „Tötung eines Kindes während der Geburt“ steht nach wie vor im Raum. Entscheidend sind der Zeitraum zwischen Geburt und Tat sowie der psychische Zustand der Mutter. Dazu laufen noch Ermittlungen, heißt es von der Polizei. Auch ein psychiatrisches Gutachten wird notwendig sein.
Leider kein Einzelfall
Die Verdächtige gibt an, das Baby allein auf die Welt gebracht zu haben. Von der Geburt will sie völlig überrascht worden sein, die Schwangerschaft gar nicht bemerkt haben. Darin dürfte auch das Motiv für die Tat bestehen. Die Frau hat in ersten Einvernahmen angegeben, das Neugeborene auf dem geöffneten Dachflächenfenster abgelegt zu haben. Doch das Dach des Mehrparteienhauses weist eine starke Neigung auf, der Säugling dürfte sofort in die Tiefe gestürzt sein.
Bei dem aktuellen Fall handelt es sich traurigerweise nicht um einen Einzelfall. Erst im Mai des Vorjahres stand eine Mutter vor Gericht, die ihr Neugeborenes nach der Geburt getötet hat. Das Urteil: 20 Monate Freiheitsstrafe, bedingt auf drei Jahre. Auch sie gab an, die Schwangerschaft nicht bemerkt zu haben.
Schwangerschaft von Müttern aktiv verdrängt
Dies wirft die Frage auf, wie es möglich ist, dass eine Schwangerschaft über die gesamte Dauer unbemerkt bleibt. „Ganz nüchtern gesehen ist ein Nichtwahrnehmen einer Schwangerschaft wohl eine aktive Verdrängung“, sagt Wolfgang Schöll, stellvertretender Leiter der Abteilung für Geburtshilfe am Universitätsklinikum Graz.
Die Schwangerschaft wirklich nicht zu bemerken sei nicht glaubwürdig, es sei denn, es gäbe besondere Umstände wie etwa eine extreme Adipositas. Denn eine Schwangerschaft geht mit zahlreichen körperlichen Veränderungen einher. Neben dem wachsenden Bauchumfang und dem Ausbleiben der Regelblutung sind laut Schöll vor allem die Kindesbewegungen ab der 20. Schwangerschaftswoche deutlich spürbar.
Dennoch ist es nach seiner Erfahrung bei 3500 Geburten im Jahr an der Grazer Frauenklinik rund einmal im Monat der Fall, dass eine Frau angibt, nichts von der Schwangerschaft gewusst zu haben. „Die Frauen kommen häufig mit Bauchschmerzen auf die ZAM und werden von dort weiter überwiesen“, sagt Schöll. Die Geburt sei für diese Frauen nochmals eine größere Ausnahmesituation, als sie ohnehin für jede Frau ist.
Psychischer Ausnahmezustand häufig als Auslöser für Kindstötung
Wenn Frauen die Schwangerschaft verdrängen, kann das daher auch ein begünstigender Faktor für eine Kindstötung sein. „Es kann vorkommen, dass eine Mutter in den ersten Stunden nach der Geburt in einem psychischen Ausnahmezustand ihr Neugeborenes tötet, oft vorausgehend durch ein fehlendes Wahrhaben der Schwangerschaft“, wie Michael Schneider, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie 2 am LKH Graz II, Standort Süd, anlässlich der Tötung eines Neugeborenen in Wien im Vorjahr erläuterte.
Ursachen eines solchen Ausnahmezustands können zudem körperlich bedingt sein, etwa durch den massiven Abfall von Hormonen und anderen Stimmungsstabilisatoren. Doch auch das Umfeld der Mutter kann wesentlich Anteil haben: „Etwa wenn eine Frau in prekären sozialen Verhältnissen lebt, von Armut betroffen ist, Missbrauch oder Misshandlungen erlebt hat, in der Kindheit vernachlässigt wurde oder mit Drogen in Kontakt gekommen ist.“
Anonyme Geburt: Seit Legalisierung 178 Fälle in der Steiermark
An Hilfsangeboten für Mütter, die ihr Neugeborenes abgeben möchten, mangelt es in Graz jedenfalls nicht. Die steirische Landeshauptstadt verfügt am Gelände des LKH-Uni-Klinikums über eine Babyklappe. Der Standort ist an der Fassade der Geburtshilflichen Ambulanz. Das letzte Mal wurde im Jahr 2021 ein Kind in der Babyklappe abgelegt. Seit 2001 wurde die Klappe in Graz sechsmal genutzt. Weitaus häufiger wird die Möglichkeit einer anonymen Geburt gewählt.
Seit der Legalisierung 2001 gab es 178 anonyme Geburten in der Steiermark, über 100 davon in Graz. Möglich ist eine anonyme Geburt neben dem Uniklinikum Graz in den LKHs Deutschlandsberg, Feldbach, Hartberg, Murtal, Standort Judenburg, Hochsteiermark, Standort Leoben, Rottenmann und Schladming.
Frauen hinterlassen Neugeborenes, aber keine Datenspur
Bei einer anonymen Geburt wird im Krankenhaus keine E-Card der Mutter gesteckt und es werden auch sonst keine Daten erfasst. Die Frau darf sich einen fiktiven Vornamen aussuchen, mit dem sie während der Geburt angesprochen werden möchte. Auch ein anonymer Transport mit der Rettung sowie eine anonyme Aufnahme auf der Station, etwa bei Problemen während der Schwangerschaft, ist möglich.
Nach der Geburt kann die Mutter ihr Neugeborenes sehen oder auch halten, sofern sie das möchten. Zudem hat jede Mutter die Möglichkeit einen Brief an ihr Kind zu hinterlassen, das ist aber keinesfalls ein Muss. „Das Angebot wird sehr gut angenommen. Idealerweise kommt es dadurch, nicht zu so tragischen Fällen, wie dem aktuellen“, sagt Schöll.