Alexander Lukaschenko regiert sein Land mit harter Hand. Doch sogar der lange Arm des weißrussischen Machthabers kann an seine Grenzen stoßen. Im Mai erst war eine Maschine der Ryanair auf dem Weg von Athen nach Vilnius, mittels einer fingierten Bombendrohung und eskortiert von Kampfflugzeugen, zur Landung in Minsk gezwungen worden, um einen weißrussischen Oppositionellen zu verhaften. Zudem wurde heute bekannt, dass der weißrussische Aktivist Witaly Schischowerhängt in einem Park in Kiew aufgefunden wurde. Die Polizei leitete nach eigenen Angaben ein Ermittlungsverfahren ein. Dabei werde neben anderen Möglichkeiten auch dem Verdacht nachgegangen, dass es sich um einen als Suizid getarnten Mord handeln könnte. In Tokio, 1000 Kilometer jenseits des äußersten Ausläufers des großrussischen Bruder-Reichs, endete am Montag aber die Reichweite des letzten Diktators Europas.

Lukaschenkos Weisung, eine - nur ein bisschen - widerspenstige Athletin seines Landes vom Olympischen Dorf abzuziehen und nach Weißrussland zurück zu entführen, ging letztlich ins Leere, nach einer diplomatischen Blitzaktion. Der sich in Freiheit wähnende Teil der Welt atmet auf, aber dass die gerade noch erfolgte Abwendung eines Giga-Skandals ein voller Erfolg für das Internationale Olympische Comite (IOC) wird, ist eher zu bezweifeln.

Die Geschichte enthält viele Zutaten eines politisch geprägten Sport-Krimis. Was war geschehen? Kristina Timanowskaja, eine Sprinterin, hatte es gewagt, Funktionäre und Trainer zu kritisieren, weil sie versetzt werden hätte sollen, vom 200-Meter-Lauf in die 4 x 400-Meter-Staffel. Schon ein solcher für die Allgemeinheit scheinbar belangloser Eingriff lässt in der politischen Nomenklatura von Weißrussland die Alarmglocken läuten. Timanowskaja wurde aus dem Olympischen Dorf "abgeholt",  das nationale olympische Komitee des Landes gab eine Erklärung ab, die Athletin würde sich wegen ihres "emotionalen und psychischen Zustandes" von den Spielen verabschieden. Doch die Wahrheit ist ein weites Feld.

"Auf mich wird Druck ausgeübt"

Am Flughafen Tokio-Haneda spitzte sich am Sonntagabend (Ortszeit) die Lage für die Läuferin zu, sie war aber imstande, noch schnell zu reagieren und wandte sich über ein unabhängiges weißrussisches Portal (Nexta) mit einem dramatischen Hilferuf an die Weltöffentlichkeit. "Auf mich wird Druck ausgeübt, und sie versuchen, mich ohne mein Einverständnis außer Landes zu bringen. Ich bitte das IOC, einzugreifen." Timanowskaja suchte und fand Schutz bei den japanischen Polizei-Behörden. Die Maschine der Turkish Airlines hob um 22.50 Uhr planmäßig nach Istanbul ab, der für die Weißrussin schon reservierte Platz blieb leer. Die Nacht verbrachte die 24-Jährige in einem Flughafenhotel.

Viele Meldungen machten die Runde, so auch jene, dass Timanowskaja unter anderem bei der österreichischen Botschaft in Tokio um politisches Asyl angesucht hätte. Dies wurde jedoch nicht bestätigt. Es habe keine Kontaktaufnahme seitens der Sportlerin gegeben, hieß es aus dem Außenministerium. Eine Verbindung nach Österreich besteht aber in der Tat, denn Leichtathletik-Nationaltrainer Philipp Unfried hat mit Timanowskaja zusammengearbeitet und schreibt ihre Trainingspläne.

Außenminister Alexander Schallenberg sagte laut einem Newsletter der Tageszeitung "Die Presse": "Wir haben sie erwartet. Es liegt an ihr, wofür sie sich entscheidet." Die österreichische Botschaft in Tokio sei darauf eingestellt gewesen, der Leichtathletin zu helfen. Doch Timanowskaja habe sich nicht gemeldet. "Österreich duckt sich nicht weg", insistierte Schallenberg demnach. Aktuell gebe es jedoch laut ÖOC-Präsident Karl Stoss keinen Kontakt.

Polen gewährt humanitäres Visum

Schließlich landete die Sportlerin nicht via Istanbul in Minsk, sondern in der polnischen Botschaft von Tokio. Dort wurde Timanowskaja nicht nur Unterschlupf gewährt, sondern sie erhielt auch ein humanitäres Visum, wie der stellvertretende Außenminister Marcin Przydacz in den sozialen Medien verlautbarte. Polens Botschafter in Japan, Pawel Milewski, hat bereits mit der Athletin gesprochen. "Sei ist müde, ein bisschen ängstlich, aber sehr dankbar für unsere Hilfe in dieser extrem schwierigen Situation ihrer sportlichen Karriere", erklärte dieser via Twitter.

Währenddessen setzte sich Timanowskajas Ehemann nach dessen eigenen Angaben in die Ukraine ab, er hält sich derzeit in Kiew auf. Seine Frau soll laut dem stellvertretenden Außenminister in den nächsten Tagen Richtung Polen aufbrechen.

Der 200-m-Vorlauf, den die Athletin bestreiten hätte sollen, ging am Sonntag ohne Timanowskaja über die Bühne. Wie es möglich war, dass eine Sportlerin einfach so mir nichts dir nichts aus dem Olympischen Dorf verschleppt werden kann, bedarf einer Untersuchung. Das IOC gerät  jedenfalls in einem Erklärungsnotstand, auch bezüglich der Sicherheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesen Spielen.

IOC leitete förmliche Untersuchung ein

"Wir müssen alle Tatsachen feststellen und alle Beteiligten anhören, bevor wir weitere Maßnahmen ergreifen", sagte IOC-Sprecher Mark Adams am Dienstag. Das IOC hatte eine Stellungnahme des Belarussischen Olympischen Komitees angefordert, die Frist lief laut Adams am Dienstag ab. Zuvor hatten Sportlervereinigungen wie Athleten Deutschland und Global Athlete eine Sperre für das NOK von Belarus gefordert.

Das IOC habe auch das Nationale Olympische Komitee Polens mit der Frage kontaktiert, wie man Timanowskaja in Zukunft unterstützen könne. "Unsere allererste und oberste Priorität ist die Sicherheit der Athleten", sagte Adams. Die Vorgehensweise des IOC solle nicht nur belarussische Sportler, sondern alle Athleten darin bestärken, dass sie beim Dachverband mit ihren Sorgen auf offene Ohren stoßen.

Nun äußerte sich auch die EU-Kommission im Rahmen des wöchentlichen Pressebriefings zum Fall Timanowskaja. Die Kommission bekunde ihre "volle Solidarität" mit Timanowskaja und würdige alle Mitgliedsstaaten, die ihr Unterstützung angeboten hätten, sagte die Sprecherin weiter. Sie hob diesbezüglich auch hervor, dass die Sportlerin bereits ein humanitäres Visum von Polen erhalten habe.

Zurückhaltender war die Reaktion auf den mysteriösen Tod des weißrussischen Oppositionsführers Witaly Schischow. Man hoffe, dass man dann "den Grund für diesen sehr unglücklichen Tod erfahren" werde, sagte die Sprecherin.