Herr Bundespräsident, wie haben Sie Weihnachten verbracht?
ALEXANDER VAN DER BELLEN: Im sehr, sehr kleinen Familienkreis, ganz atypisch. Normalerweise besuchen uns Freunde und Verwandte, es ist ein Kommen und Gehen, diesmal eben nicht. Aber wenn’s einmal so ist, ist das auch auszuhalten.

Am 26. Dezember beginnt ein neuerlicher Lockdown. Dazu kursiert im Netz ein witziger Satz: „Bald wird jeder jemanden kennen, der sich nicht auskennt.“ War die Regierungskommunikation zu kompliziert oder ist die Materie so komplex, dass es nicht anders geht?
Die Materie ist komplex und der Zeitdruck war so stark, dass man nicht umhinkonnte, die Empfehlungen und Vorschriften mehrfach zu ändern. Jetzt hat es wenig Sinn, darüber zu rätseln, ob man es nicht doch geschwinder oder besser hätte machen können – in so einer Situation macht jeder Fehler. Ich verstehe aber, dass das eine schwierige Situation für Menschen ist, die planen wollen und müssen.

Keine Staatsgäste, keine Bäder in der Menge, keine Reisen – wie hat sich Ihr Arbeitsalltag geändert durch Corona?
Schon deutlich. Wir haben einen Riesenrückstau an Staatsbesuchen und Auslandsreisen. Ich habe viel telefoniert und Videokonferenzen gemacht. Das ist gut, ersetzt aber nicht den persönlichen Austausch.

Warum?
Wenn man sich unter vier Augen gegenübersitzt, weiß man, man ist unter vier Augen. Und es entsteht auch eine intime Gesprächsatmosphäre. Im anderen Fall weiß ich nicht, wer mithört. Vertraulich verhandeln kann man am Bildschirm nicht. Diese Situation ist natürlich auch für alle EU-Gremien schwierig. Ein Europäischer Rat per Videokonferenz ist etwas ganz anderes als persönliche Treffen.

In Ihren Reden nutzen Sie Ironie und paradoxe Interventionen …
… (lacht) Freut mich, dass Ihnen das aufgefallen ist.

Hilft das in dieser ernsten Lage oder haben Sie das Gefühl, Sie erreichen die Leute nicht mehr?
Nach meinen fast vier Jahren als Bundespräsident habe ich eher das Gefühl, dass mir die Leute noch aufmerksamer zuhören als zu Beginn. Die Durchsetzungsmacht des Bundespräsidenten ist allerdings beschränkt.

Der Regierung ging es bei den Massentestungen ähnlich, der Kanzler wollte sie vor Weihnachten, die Länder machten sie früher. Wie wird das bei der Impfung?
Es ist schon ein Problem, aber wir sollten die Dinge ein bisschen gelassener betrachten. Der zögerliche Beginn der Tests ist das eine. Aber am letzten Wochenende wurden dann die Teststraßen gestürmt. Wer sagt also, dass die Impfskepsis, die in einem Teil der Bevölkerung vorhanden ist, nicht auch schwindet, wenn die ersten hunderttausend Menschen problemlos geimpft worden sind? Dann könnte das Gegenteil eintreten – dass jeder ungeduldig darauf wartet: Wann komme ich endlich dran?

Es ist ein Dilemma: Sollen Politiker mit gutem Beispiel vorangehen oder riskieren sie so den Vorwurf, sich vorzudrängen?
Ich werde klar und offen zur Impfung kommunizieren, dass sie etwas sehr Positives ist und der Nutzen die Risiken weitaus überwiegt. Gleichzeitig werde ich mich nicht vordrängen. Priorität hat das ärztliche Personal, haben Pflegerinnen und Pfleger, Altenheime und ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Aber wenn ich dran bin, lasse ich mich gerne impfen.

Verstehen Sie Impfskepsis?
Mich beeindruckt, dass die Forschung innerhalb von Monaten den Impfstoff entwickelt, getestet und freigegeben hat. Das war eine unglaubliche Leistung. Außerdem – diese Skepsis gibt es nicht, wenn man in ein tropisches Land fährt. Man erkundigt sich selbstverständlich beim Arzt oder im Tropeninstitut nach den notwendigen Impfungen und lässt sich impfen. Warum also Skepsis, wenn die Krankheit bei uns ums Eck lauert?

Was hat uns Corona über unser Land und seine Schwachstellen gelehrt?
Es ist leicht, Fehler herauszupicken und zu sagen, das hätte anders laufen sollen. Ich plädiere für eine gewisse Großzügigkeit. Diese Pandemie ist wenige Tage nach der Angelobung der neuen Regierung ausgebrochen. Aber selbst wenn sie schon zehn Jahre im Amt gewesen wäre, auf so eine Situation wäre sie nicht vorbereitet gewesen. Außerhalb der Politik ist man sich zu wenig bewusst, wie oft unter Zeitdruck und mit unvollständiger Information entschieden werden muss.

Sollen in der Pandemie Politiker oder Experten kommunizieren?
Niemandem wird der Mund verboten, jeder Experte ist eingeladen, sich Foren zu suchen, um seine Meinung kundzutun. Ich komme aus diesem Bereich und bin der Letzte, der sagt, man soll auf die Wissenschaft nicht hören. Aber auch Wissenschaftler wissen, dass man die Dinge von zwei Seiten sehen kann.

Welche Lehren ziehen Sie aus dem Krisenjahr?
Es war gut, zu sehen, dass bestimmte Haltungen in der Budgetpolitik über Nacht korrigiert worden sind. Das ausgeglichene Budget als Mantra war Schnee von gestern, heute heißt es: „Koste es, was es wolle“. Die zusätzliche Verschuldung ist in dieser Ausnahmesituation auch unter konservativen Politikern nicht wirklich ein Thema. Als Ökonom sage ich: gut gemacht, Leute.

Ob das die Enkel auch so sehen?
Wenn es die Enkel sind, haben wir Jahrzehnte Zeit, mit der neuen Situation umzugehen. Die Zinssituation heute erlaubt eine höhere Verschuldung.

Weitere Lehren?
Wir beschäftigen uns noch kaum mit der Frage, wo ist dieses Virus entstanden, wie ist diese infizierte Fledermaus, die vorher irgendwo im Wald gehaust hat, in Kontakt mit Menschen gekommen?

Sie sehen einen Konnex zu unserem Umgang mit der Natur?
Ja sicher. Diese Art von Virusübertragung ist nicht die erste. In Afrika hatten wir mindestens ein halbes Dutzend ähnlicher Fälle, aber sie blieben regional beschränkt. Jetzt wüssten wir alle gern, wo ist der nächste Gefahrenherd?

Das Klimathema wird zwar von Covid überlagert, kommt aber bei der Hintertür wieder herein?
Es hat eine vollkommen neue Dimension erhalten, weil der Lebensraum dieser Tiere einerseits durch Rodung, aber sicher auch durch die Klimaveränderung ge- oder zerstört wurde.

Sind Sie zuversichtlich, dass die Investitionen nach der Pandemie in die richtige Richtung gehen?
Grundsätzlich schon, aber die Frage ist berechtigt. Ich habe zu oft erlebt, dass Klimaziele definiert und verschärft werden, aber auf die Maßnahmen vergessen wird, die zu ihrer Erreichung führen würden. Wir sind jetzt noch im Stadium der Zielfestlegung, auf die konkreten Maßnahmen warten wir noch. Doch das 750-Milliarden-Paket wurde von der EU beschlossen. Es ist von historischer Bedeutung, dass derartige Beträge aufgenommen und großteils in nachhaltige Projekte investiert werden.

Wirkt der Spaltpilz Corona also auch einigend auf Europa?
Ich glaube schon – nach den Fehlern ganz zu Beginn. Nach den ersten 14 Tagen hat kurzzeitig Kleinstaaterei um sich gegriffen. Wir haben in Europa aber bald verstanden, dass wir gemeinsam vorgehen müssen. Und waren damit sehr erfolgreich.

Sehen Sie gute Gründe, sich auf das Jahr 2021 zu freuen?
Ja sicher. Wir wissen jetzt viel mehr über das Virus, wir wissen viel mehr darüber, wie wir uns schützen können, wir haben jetzt schon einen Impfstoff, es ist nur noch eine Frage der Organisation, die Leute rasch zu impfen. Wir haben gute Aussichten, im Laufe des Jahres das Leben wieder so führen zu können, wie wir es uns wünschen und wie wir es kennen.

Worauf freuen Sie sich persönlich?
Ich bin überrascht, wie sehr mir der Händedruck abgeht. Das war mir nie so bewusst, aber jetzt, wo ich ihn nicht machen kann, vermisse ich ihn.