In der Mitte finden sich Mehrheiten: So lautete das politische Glaubensbekenntnis aller Parteien seit 1945, auf diesem Schlachtfeld wurden Wahlen gewonnen wie verloren. Heute ist es vor allem die im hartnäckigen Tief feststeckende ÖVP unter Karl Nehammer, die ihre letzten Hoffnungen in Sachen Macht auf die Mitte setzt.

Aber existiert diese Mitte überhaupt noch, wenn sich immer mehr Menschen in den wohlhabenden liberalen Demokratien des Westens zu Parteien an den politischen Rändern hingezogen und von diesen repräsentiert fühlen?

Bertram Barth, Marktforscher und geschäftsführender Gesellschafter von Integral, gibt eine klare Antwort: „Die klassische bürgerliche Mitte, die als sozial homogene Gruppe das System stabilisiert und geprägt hat, gibt es schon lange nicht mehr.“ Natürlich lasse sich die Mitte statistisch definieren, etwa über das Einkommen. Doch eine solche eindimensionale Definition sage nichts darüber aus, welche Werte und Erwartungen dahinter stecken. Und erst diese Information macht die Menschen politisch greif- und ansprechbar.

Ein anderes Bild von Österreich
Ein anderes Bild von Österreich © KLZ / Infografik Kleine Zeitung

Marktforscher analysieren die Gesellschaft nicht mehr nur nach Alter, Geschlecht und Einkommen, sondern nach sogenannten Sinus-Milieus, die auf persönlichen Werten, Lebensstilen und ästhetischen Präferenzen beruhen, aber auch die soziale Lage, also Einkommen und Bildung, berücksichtigen. Anhand dieser Daten zeigt sich in Barths Studien, dass an die Stelle der ehemaligen bürgerlichen Mitte zwei neue Gruppen getreten sind: ein nostalgisch-bürgerliches Milieu sowie eine adoptiv- pragmatische Mitte. Beide unterscheiden sich kaum beim Einkommen, aber erheblich beim Umgang mit Problemen.

Warum die bisherige ÖVP-Strategie zum Scheitern verurteilt ist

„Die nostalgisch-bürgerliche Gruppe ist zutiefst verunsichert“, so Barth, „weil ihre Werte nicht mehr gelten“. Deren Einstellungen fasst er so zusammen: „Sei fleißig, ordentlich und anpassungsbereit, im Gegenzug sorgt der Staat für Sicherheit und Planbarkeit des eigenen Lebens.“ Dass die Politik dazu nicht länger imstande ist, hat dieses Milieu enorm verbittert. Auch die neue adaptiv-pragmatische Mitte versteht sich als fleißig und legt wie die Nostalgiker großen Wert auf Sicherheit. Hier weiß man aber, dass in einer unsicheren Welt alles unsicher ist. Das wird akzeptiert, doch will man das Beste für sich selbst und die Seinen herausholen.

Während es Populisten erfolgreich gelingt, das verbitterte Milieu anzusprechen, und die ÖVP Selbiges zwar versucht, aber mit untauglichen Mitteln scheitert, spricht laut Barth derzeit keine Partei die neue Mitte an. Der Grund: Es ist weit einfacher, eine ins Eck gedrängte Gruppe mit klaren Botschaften und einfachen Lösungen abzuholen, Stichwort Asylstopp oder Festung Österreich.

Die verbitterten Bürgerlichen repräsentieren zwar nur rund 12 Prozent der Wohnbevölkerung über 14 Jahre, sie haben aber starken Einfluss auf die untere Mitte und deren angrenzenden Gruppen. Das macht sie so wichtig. „Insgesamt kommt dieser nostalgische Cluster auf rund 30 Prozent“, erläutert Barth. Die neue Mitte umfasst 14 Prozent der Bevölkerung. Zusammen mit den angrenzenden Milieus, in die sie ebenfalls stark ausstrahlt, liegt hier der Schlüssel für neue politische Allianzen: „Es gibt keine Mehrheiten ohne die neue moderne Mitte.“

Zentrale Rolle für Klimaschutz

Kompliziert wird dieses Projekt für jede willige Partei allerdings dadurch, dass dieses Milieu weit schwerer direkt anzusprechen ist, eben weil sie bei politischen Konzepten und Forderungen deutlich höhere Ansprüche hat: Lösungen müssen für diese Gruppe konkret und umsetzbar sein. Das macht es für Parteien kompliziert. Debatten über Schnitzel, Bargeld oder Normalität, wie sie die ÖVP zuletzt wiederholt hochzog, verpuffen hier deshalb wirkungslos. Zudem zielen diese Botschaften ausschließlich auf das verbittert-nostalgische Milieu, das jedoch von der FPÖ zielgenauer angesprochen wird.

Klimaschutz etwa ist für die neue Mitte ein zentrales Thema, weil sie eine lebenswerte und intakte Umwelt für sich als wichtig erachtet. Doch die Maßnahmen müssen leistbar sein und unmittelbare Eingriffe in das Privatleben genau begründet werden. Ein erzwungener Heizungstausch wird abgelehnt, positive Anreize wie etwa beim Klimabonus dagegen für gut befunden.

Grundsätzlich haben für Barth ÖVP, SPÖ und FPÖ die Chance, ein Drittel der Bevölkerung hinter sich zu vereinen. SPÖ wie ÖVP haben hier demnach noch Luft, während die FPÖ ihr Potenzial bereits ausschöpft. Entscheidend für künftige Mehrheiten bleibt jedoch die neue Mitte. Dass diese von keiner Partei abgeholt wird, bringt das Dilemma, in dem die Republik steckt, auf den traurigen Punkt.

Marktforscher Bertram Barth, Integral-Geschäftsführer