„How is life?“, eröffnete Chefredakteur Hubert Patterer das Gespräch in der bis auf den letzten Platz gefüllten Wiener Redaktion am Lobkowitzplatz – und vom ersten Moment an war spürbar, dass der Kanzler und ÖVP-Obmann nicht einfach nur zum lockeren, unverbindlichen Plaudern gekommen war. Seine Antwort „den Umständen entsprechend unverdrossen“ bildete den Beginn einer intensiven Diskussion über Grundsätzliches und die Herausforderungen, in schwierigen Zeiten Politik zu gestalten.

Leben in der Lage: In der Soldatensprache bedeutet das den Umgang mit sich ständig ändernden Rahmenbedingungen. Profitiert der Kanzler also womöglich von seinen früheren Erfahrungen als Berufssoldat? „Überraschungen nehme ich mittlerweile, wie sie kommen.“ Von diesen gab es in den vergangenen knapp zwei Jahren, in denen Nehammer an der Spitze der Bundesregierung steht, zweifellos genügend: Russlands Überfall auf die Ukraine, die daran anschließende Energiepreiskrise samt massiver Teuerung, nun der Krieg in Nahost.

„Man darf sich nicht treiben lassen“

Fühlt sich Nehammer ungerecht behandelt angesichts der vielen kritischen Kommentare in den Medien und der schlechten Umfragewerte für die ÖVP? „Man darf sich nicht treiben lassen, auch nicht von Umfragen“, antwortet Nehammer. Die Wahlen will der ÖVP-Obmann natürlich trotzdem unbedingt gewinnen. Dafür nimmt er auch zur Not Umfrageniederlagen in Kauf. Aber entscheidend sei, „die Probleme zu lösen. Und das passiert niemals allein, sondern immer im Team.“

Sein größter Fehler? Dieses Urteil überlässt er gerne den Medien. Während der Corona-Pandemie sei der Schutz der Menschen im Vordergrund gestanden. Stellvertretend für die damals extrem angespannte Lage nennt er den Beschluss der Impfpflicht zusammen mit dem Lockdown im November 2021 im Rahmen eines Treffens der Regierungsspitze mit den Landeshauptleuten am Tiroler Achensee. Nehammer war damals Innenminister unter dem Kurzzeit-Kanzler Alexander Schallenberg. Aber: „Wir alle hatten immer den Antrieb, Menschenleben zu retten.“ Von daher relativiere sich für ihn auch die Frage nach dem größten Fehler.

Wer ist schuld an dieser schlechten Stimmung im Land und gegenüber der Regierung? „Wer kommuniziert denn die schlechte Stimmung?“, schießt der Kanzler mit einer Gegenfrage zurück und nimmt dabei die „einordnenden Medien“ mit in die Pflicht. „Ich fordere auch von den Medien als vierter Gewalt im Staat diese gemeinsame Verantwortung ein.“ Die Lage von Land und Leuten sieht Nehammer dabei weit besser als meistens – und in den meisten Medien – dargestellt.

Seine Partei ist für Nehammer eindeutig und fest in der politischen Mitte verankert. Doch warum liegt die Volkspartei mittlerweile nur noch auf Platz drei hinter Spitzenreiter FPÖ und SPÖ? „Die Mitte-Position ist für die Medien nicht so aufregend wie die Radikalen, weil die Mitte nicht so sehr polarisiert.“ Da war er schon wieder, dieser mal subtil, mal offensiv vorgetragene Vorwurf an die „einordnenden Medien“. Die „Radikalität der öffentlichen Debatten“ sieht er im Widerspruch zum tatsächlichen Zustand des Landes, der weit besser sei als vielfach öffentlich dargestellt.

Kein Liberaler, kein Konservativer, ein Christlich-Sozialer: So beschreibt sich Nehammer selbst. Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität nennt er als Fundament seiner politischen Grundsatzüberzeugungen. Mit der Legende vom Heiligen Martin definiert er im Anschluss dann auch sein Verständnis von Solidarität: „Der hat seinen eigenen Mantel mit einem Bedürftigen geteilt und nicht, wie es die SPÖ machen will, die Mäntel von 15 anderen zwecks Umverteilung eingesammelt, die dann frieren.“

„In Österreich wird Menschen geholfen, die Hilfe brauchen“

Menschen in Not zu helfen, sei ein christlich-soziales Gebot, aber eben mit dem Ziel, dass diese sich möglichst schnell selbst helfen können. Auch in Bezug auf Elternschaft dürfe Verantwortung nicht vorschnell an andere delegiert werden. Grundsätzlich sieht er es jedoch als willkommene Chance, dass in Österreich „endlich wieder ideologisch diskutiert werden kann“, weil SPÖ wie FPÖ an die ideologischen Ränder rücken und auch die KPÖ wieder Erfolge sammle.

Was antwortet Nehammer auf Ex-Caritas-Präsident Franz Küberl, der in einem Interview mit der Kleinen Zeitung kürzlich meinte, der ÖVP hinke im Sozialen hinten nach, der Partei fehle es an Breite? Das stimme nicht, so der Kanzler, die politischen Gegner würde durch Manipulation versuchen, ein falsches Bild zu zeichnen. Sein eigener Vater stamme etwa aus einfachen Verhältnissen, und auch er selbst habe früher mit seiner Frau das knappe Haushaltsgeld in Kuverts aufgeteilt, eines für die Fixkosten, ein anderes, um für einen Urlaub zu sparen: „Ich wurde nicht als Bundeskanzler geboren.“ Außer Zweifel stehe für ihn jedoch: „Österreich ist ein Land, in dem der Staat und Hilfsorganisationen bereitstehen, wenn Menschen Hilfe brauchen.“

Kanzler sieht „demokratiepolitisch bedenkliches Sittenbild“

Zum Abschluss dann noch die innenpolitische Causa prima: Die Umstände der Diskussion über die am Dienstag aufgetauchte und heimlich angefertigten Tonaufnahme des verstorbenen ehemaligen Justizsektionschefs Christian Pilnacek, in welcher dieser dem heutigen Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka vorwirft, ihn zur Einstellung von Ermittlungen gegen die ÖVP gedrängt zu haben, findet Nehammer „mehr als hinterfragenswert“ und „demokratiepolitisch wirklich bedenklich“. Dabei zeige sich ein neues Sittenbild im Land, bei dem ein Mensch, der sich nicht mehr wehren könne, instrumentalisiert werde.

Nehammer sieht einen unauflösbaren Widerspruch zwischen den getätigten Aussagen Pilnaceks in zwei U-Ausschüssen zum Thema und jenen auf dem nun öffentlich gewordenen Tonband. Für den ÖVP-Chef gilt, was der Verstorbene unter Wahrheitspflicht ausgesagt habe und nicht, was heimlich und in weinseliger Stimmung aufgenommen wurde. Entsprechend lehnt Nehammer auch politische Konsequenzen für Sobotka, wie sie nicht nur die Opposition, sondern mit den Grünen auch der eigene Koalitionspartner fordert, entschieden ab.