Es gab zuletzt Umfragen, wonach zwei Drittel der Europäer meinen, dass ihr Leben außerhalb der EU auch nicht schlechter wäre. Und das acht Monate vor den Wahlen.

Alexander Stubb: Ich bin bei Umfragen immer vorsichtig, weil es auf die Fragen ankommt, auf die aktuelle Stimmung. Aber es gibt grundsätzliche Fragen zum europäischen Projekt. Die EU existiert aus vier Gründen: Frieden, Wohlstand, Stabilität, Sicherheit. Frieden haben wir erreicht. Beim Wohlstand läuft es gut. Wir sind der reichste Kontinent der Welt. Aber unsere Begriffe von Stabilität und Sicherheit sind in den letzten Jahren bis auf den Grund erschüttert worden. Die Euro- und Finanzkrise hat uns das Gefühl gegeben, dass unsere Währung nicht unter Kontrolle ist. Die Migrationskrise 2015 erzeugte das Gefühl, dass die Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Meine Botschaft ist: wir müssen den Menschen zuhören, die dazu neigen, Populisten zu wählen, und dann die Probleme begradigen. Einfache Lösungen gibt es nicht.

Wurde bei der Rettung des Bankensystems 2008/2009 alles falsch gemacht? Banker mussten nicht ins Gefängnis, nur wenige Institute wurden geschlossen, die Steuerzahler mussten die Last tragen. Hat das die autoritäre Populistenwelle losgelöst.

Stubb: Das stimmt. Das System brach damals teilweise zusammen, die Maßnahmen kamen zu spät. Mich interessiert jetzt nur, dass so etwas nicht mehr passiert. Die Gesetze von damals, mit der Bankenunion und Europäischem Stabilitätsmechanismus, sind Schritte in die richtige Richtung. Auch die Bankenregulierung ist viel strenger als zuvor. So ist das immer: auf die Krise folgt Chaos und dann findet man eine suboptimale Lösung. Ich hoffe, dass diese suboptimale Lösung ausreicht. Aber es haben viele das Gefühl, dass das Wirtschaftswachstum schlecht aufgeteilt ist. Ein Klassiker: die EU ist gut darin, einen großen Kuchen zu backen, aber schlecht, ihn entsprechend zu verteilen.Wer sich unfair behandelt fühlt, schaut sich anderswo um. Wir sollten damit aufhören, den Leuten die Illusion einer perfekten Welt vorzuspielen.

Was würden Sie anders machen als Jean-Claude Juncker, warum wollen Sie Ihn als Kommissionspräsident ablösen?

Stubb: Es geht um die Werte. Sie werden von außerhalb der EU attackiert, etwa von China und Russland, von innen ebenso: Polen, Ungarn und sogar innerhalb der EVP, siehe Fidesz. Ich denke, wenn wir uns nicht mehr an unsere Werte halten – Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie usw. - haben wir nichts mehr. Gerade in unsicheren Zeiten brauchen die Menschen Halt. Da will ich auf den europäischen Barrikaden stehen und beteilige mich am Rennen. Juncker und seine Kommission verdienen Anerkennung dafür, die Eurokrise und die Migrationskrise teilweise gelöst zu haben und dafür, wie sie mit Brexit und Donald Trump umgehen. Ich komme aus einer anderen Generation als Juncker. Ich bin sehr froh, dass er noch immer ein Nokia-Telefon verwendet. Aber ich würde etwas digitaler agieren. Und ich würde versuchen, die Geschlechterbalance in der Kommission zu verbessern. Die Barroso-Kommission hatte rund 20 Prozent Frauen, jene von Juncker etwa ein Drittel, ich würde 40 Prozent anstreben.

Würden Sie Fidesz in der EPP lassen? Um zu kommunizieren?

Stubb: Dazu drei Dinge: Erstens eine offene Diskussion in der EPP zu dem Thema. Zweitens die Fidesz-Mitgliedschaft ruhen zu lassen, bis das Artikel-7-Verfahren abgeschlossen ist. Drittens Gespräche mit Fidesz über Werte, die zu einer klaren Erklärung führt. Passiert das nicht, müssen sie raus.

In Ihrem Wahlmanifest schreiben Sie: "Illiberale Demokratie ist ein Widerspruch in sich, und sie widerspricht dem, wofür die Europäische Volkspartei steht." Der Grund, wieso wir heute über "illiberale Demokratie" sprechen, liegt darin, dass Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán diesen Begriff formuliert hat. Wozu noch darüber diskutieren?

Stubb: Wenn das der Fall ist, muss er hinaus. Keine Frage. Ich würde nie die polnische PiS-Partei oder Salvini bei uns akzeptieren. Wenn Orbán unsere Werte nicht akzeptiert, ist er auch draußen.

Bei den EU-Wahlen kommendes Jahr könnten die Parteien rechts außen ebenso wie die Linken Zugewinne haben. In Bayern haben zuletzt plötzlich die Grünen zugelegt. Was erwarten Sie? Wie wollen Sie reagieren?

Stubb: Das ist jetzt schwer zu sagen. Aber wenn es sich ähnlich verhält wie bei nationalen Wahlen, werden die Karten neu gemischt. Es wird keine klare Mehrheit im EP geben, das lässt sich jetzt schon sagen. Gerade darum ist es wichtig, an den Schlüsselstellen Leute zu haben, die Koalitionen schmieden können. Und die Erfahrung im Umgang mit Populisten haben. Das haben wir in Finnland geschafft. Die Wahlen werden alles durcheinanderbringen und jemand muss das dann aufräumen.

Die Probleme mit Ungarn, Polen, Rumänien und anderen Staaten haben auch damit zu tun, wie die EU-Erweiterung gehandhabt wurde. Was ging da schief?

Stubb: Ich würde der Osterweiterung nicht die Schuld zuschieben. Die Finanz- und Migrationskrisen waren viel größere Ursachen für Populismus. Ich denke, dass die Erweiterung das erfolgreichste Projekt in der Geschichte der EU ist. Das war nie leicht - aber immer die richtige Entscheidung. Es war eine moralische Pflicht nach 1989, diese Länder aufzunehmen. So etwas ist nie ein Spaziergang. Haben wir das überlebt? Ja. Geht es uns heute besser als 1989? Ja! Geht es den ost- und zentraleuropäischen Ländern besser als damals? Zehnmal besser.

Aber war der Gedanke nicht zu einfach, dass die postkommunistischen Staaten nach dem EU-Beitritt automatisch wohlhabend und der liberalen Gesellschaft gegenüber aufgeschlossen würden?

Stubb: Lassen Sie mich das umdrehen: wie sähe die Sicherheitslage in Europa aus, wenn diese Staaten nicht Mitglieder der EU und der Nato wären? Können Sie sich die Einschüchterung von russischer Seite vorstellen? Und wie wir dann mit den Achseln zucken und sagen würden: hoppla, wir haben ein Problem? Weil sie Teil unserer Wertegemeinschaft sind, wird Russland es nicht wagen, ihnen etwas anzutun. Schauen Sie sich an, was Russland in der Ukraine macht. Was es in Georgien getan hat. Hätte es das gemacht, wenn sie in der EU und der Nato gewesen wären? Ich denke, nicht.

Sind Sie also auch für einen Beitritt der Westbalkanstaaten?

Stubb: Ja. Langfristig definitiv. Das ist eine strategische Entscheidung. Wenn wir sie nicht aufnehmen, werden sie zu Russland tendieren, und ich bin sicher, dass das niemand will.

Haben Sie eigene Vorschläge für die Migrationspolitik?

Stubb: Die Ängste, die die Menschen in Österreich im Sommer 2015 hatten, sind nachvollziehbar. Die Bilder von damals kann man nicht vergessen. Aber wir haben heute keine Migrationskrise mehr. Die Zahlen der Neuankömmlinge sind auf dem Niveau vor 2015. Wer also heute mit dem Hinweis auf künftige Migration Angst zu schüren versucht, soll lieber den Mund halten oder die Fakten zur Kenntnis nehmen. Wir brauchen pragmatische Lösungen, allen voran Asylzentren außerhalb der EU, von der EU finanziert und gemeinsam mit dem UNHCR geführt. Wir brauchen also mehr Abkommen mit Drittstaaten wie mit der Türkei. Wir müssen Frontex stärken, und wir brauchen humanitäre Asylquoten: Ich meine Quoten für Menschen, die nach Völkerrecht klar Anspruch auf Asyl haben. Wir in der EU entscheiden dann, wie viele wir nehmen. Finnland nimmt derzeit rund 3500 solcher Menschen pro Jahr auf. Wir müssten dann innerhalb der EU entscheiden, wie wir sie aufteilen. Da braucht es flexible Solidarität: wer keine Quote erfüllen will, muss auf andere Weise mithelfen.

Zum Beispiel wie?

Stubb: Mit Geld zum Beispiel.

Ähnliche Vorschläge macht ihr innerparteilicher Konkurrent Manfred Weber. Was zeichnet Sie gegenüber ihm aus?

Stubb: Erstens wird diese Wahl nicht an der Frage der Migration allein entschieden werden. Was mich auszeichnet? Erfahrung. Ich war vier Jahre im Europaparlament, acht Jahre in der Regierung, als Finanzminister, Außenminister, Handelsminister, Europaminister und Ministerpräsident. Zudem spreche ich fünf Sprachen, was für gewöhnlich recht hilfreich ist, wenn man mit Europa kommuniziert. Und ich hoffe, dass ich auch in der EVP als ein Politiker der nächsten Generation gesehen werde, der Politik etwas anders macht und anders kommuniziert. Ein bisschen wie Sebastian Kurz.

Was mögen Sie an seiner Art, Politik zu kommunizieren?

Stubb: Ich denke, er ist modern, frisch. Ich habe ihn einige Male getroffen, wir verstehen uns sehr gut. Ich habe viel Respekt dafür, was er macht. Und er ist handlungsorientiert. Er ist ein einer schwierigen Koalitionssituation, ähnlich wie ich damals. Ich denke, dass er sehr gut damit umgeht. Und ich denke, es ist offensichtlich, dass die Europapolitik der österreichischen Regierung vom Kanzler vorangetrieben wird.

Manche halten Sie für zu glatt, zu perfekt, für einen Vertreter der kosmopolitischen Elite.

Stubb: Ich versuche, ein bisschen anders zu sein. Ich bin, wie ich bin, ich versuche nichts zu verstecken. Ich liebe Sport. So bin ich nun einmal. Ich mag auch österreichischen Wein. In Wahrheit sind öffentliche Personen weder so gut, wie die Medien behaupten, dass sie sind, noch so schlecht. Ich kann nicht so tun, als wäre ich ein anderer. Ich bin ein Ehemann, ein Vater, und ein Finne.

In gewisser Hinsicht sind Sie der Anti-Trump.

Stubb: Ich hoffe, ich bin der Anti-Trump. Ernsthaft. Ich mag wirklich nicht, wofür Donald Trump steht.

Aber wenn Sie die Wahl gewinnen und Kommissionspräsident werden, müssen Sie zumindest bis Ende 2020 mit Trump auskommen.

Stubb: Überhaupt kein Problem. Ich kann nicht nur mit einem Southern Accent reden, weil ich im Great Ol' State of South Carolina studiert habe, sondern ich war auch im finnischen Golf-Nationalteam. Wir würden also eine nette Runde Golf spielen und uns verständigen können. Ich muss nicht mit Trumps Werten übereinstimmen, um mit ihm auszukommen. Ich habe auch Wladimir Putin und Xi Jinping getroffen, ohne ihrer Weltsicht zuzustimmen.

Wenn man mit der Wirtschaft spricht hört man oft, Europa spreche nicht mit einer Stimme, besonders gegenüber den großen Blöcken wie USA, Russland, China

Stubb: Wenn es um Außensicherheitspolitik geht, haben Sie recht. Bestimmt kennen Sie den Witz: Obama braucht mitten in der Nacht was von Europa, ruft an und hört den Anrufbeantworter: Wenn Sie Deutschland brauchen, drücken sie die Eins, wenn sie Frankreich brauchen... Aber was den Handel angeht, widerspreche ich Ihnen. Handel ist eine der fünf Kernkompetenzen und wir haben es bisher gut gemacht. Wir sind der größte Handelsblock der Welt. Jetzt sehen wir, dass einige der multilateralen Vereinbarungen nicht halten im Rahmen der WTO. Was machen wir also? Wir gehen zu bilateralen Verhandlungen über. Japan, Korea, Kanada... das ist der richtige Weg. Und warum ist der erfolgreiche? Gerade weil wir da mit einer Stimme sprechen. Es gibt den Rat der Handelsminister und Kommissarin Cecilia Malmstroem verhandelt für uns. Das funktioniert bestens.

Brauchen wir mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit?

Stubb: Beim Euro. Bei der digitalen und technologischen Revolution. Beim Außengrenzschutz und bei der Migration.

Braucht es ein Eurozonenbudget und einen Euro-Finanzminister?

Stubb: Nein. Ich fand die Idee eines eigenen Budgets für die Eurozone immer sonderbar. 85 Prozent des EU-Budgets wird ohnehin schon in den Euroländern ausgegeben. Wozu also ein eigenes für sie schaffen? Das hat für mich nie Sinn ergeben.

Bis 2045 wollen Sie Europa kohlenstoff-frei machen. Das ist sehr ambitioniert.

Stubb: Ja. Ich bin optimistisch, dass das machbar ist. Aber wir müssen etwas tun. Im Jahr 2100 haben wir voraussichtlich vier Milliarden Menschen in Afrika, heute nicht ganz eine. Wenn wir einen Temperaturanstieg von zwei Grad bis zum Ende des Jahrhunderts verzeichnen heißt das, dass die Migrationskrise 2015 ein Kinderspiel war. Europa kann allein das Klima nicht retten, aber die innovativen Unternehmen weltweit können beitragen. Ich würde sagen: Think big. Vor hundert Jahren war das Haupttransportmittel in Wien das Pferdefuhrwerk. Ist es nicht sonderbar, dass wir jetzt mit Autos fahren die auch mit Pferdeäpfeln betrieben werden können und in ein paar Jahren fahren wir gar nicht mehr selbst, weil autonome Fahrzeuge sicherer sind? Bis 2045 haben wir keine Verbrennungsmotoren mehr. Wir müssen das radikaler angehen. Und es sind nicht nur Regulatorien, die das bewerkstelligen, es ist die Industrie selbst. Zum Beispiel Volvo, das bald nur noch E-Autos bauen will. Das ist ein Megatrend. Die Europäische Kommission kann der Antrieb dafür sein.

Was passiert mit denen, die am Fortschritt nicht teilhaben können? Die mit ihrer Hände Arbeit ihren Unterhalt verdienen und keine Roboteringenieure werden?

Stubb: Das macht mir große Sorgen. Wir müssen da Lösungen anbieten. Wir wissen nicht, wie die Arbeit Mitte dieses Jahrhunderts ausschauen wird. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, haben wir überall auf der Welt Trumps. Der Schlüssel liegt in der Bildung, da geht es auch um Dinge wie Empathie, die umso wichtiger werden, je mehr die Welt aus Computern und Robotern besteht.

In Ihrem Manifest liest man auch: "Europa steht für Transparenz, nicht geheime Entscheidungsfindung." Im Lichte dessen: Würden Sie Martin Selmayr als Generalsekretär der Kommission behalten?

Stubb: Was hat das mit Transparenz zu tun?

Sie haben die Debatte um seine blitzartige Bestellung doch verfolgt.

Stubb: Ich habe die Debatte in der Brüsseler Blase verfolgt.

Wenn man gewöhnlichen Bürgern davon erzählt, sagen sie: typisch EU. Selmayr ist ein hoch kompetenter Beamter – aber seine Bestellung war extrem problematisch.

Stubb: Ich würde natürlich mein eigenes Team wählen, wenn ich Kommissionspräsident würde. Und ich würde das in voller Transparenz machen.