Blau der Himmel, eher braun die Donau, eine Gruppe weiß-grauer Lachmöwen zieht vorbei am prächtigen Bau des Parlaments. Nur einer der Vögel schert aus und lässt sich nieder auf dem gewaltigen, neo-gotischen Prunkpalast, in dem seit rund zwölf Jahren die Fidesz-Partei von Regierungschef Viktor Orbán das Sagen hat; Baumeister Imre Steindl verbaute ab 1885 mehr als 40 Millionen Ziegel. Jetzt sitzt das Tier, völlig ungerührt, auf dem Gesims nahe der drei Fahnenstangen über dem Südportal. Stolz wehen dort zwei Fahnen im Wind, die ungarische Trikolore in Rot, Weiß und Grün, im Doppelpack.

Die dritte Stange ist leer; eine ultramarinblaue mit gelben Sternen sucht man hier vergeblich. Europa hängt sich Viktor Orbán derzeit nicht über den Eingang. „Die hohen europäischen Würdenträger wollen uns zu ‘Europäern’, zu ‘Sensibilisierten’, zu Liberalen prügeln“, rief er am 23. Oktober, dem Nationalfeiertag, dem Jahrestag des Ungarn-Aufstands gegen die kommunistische Gewaltherrschaft, seinen Anhängern zu, die sich zu Zehntausenden versammelt hatten. Doch wenn es darum gehe, „Heimat, Familie, Kultur, die Freiheit des alltäglichen Lebens zu verteidigen“, so Orbán, müsse jeder seinen Beitrag leisten. „Wenn die Zeit kommt, stellt euch vor eure Häuser und verteidigt sie!“, fügte er hinzu.

Brandrede


Mit der Brandrede gegen die Europäische Union, die den Bürgern Ungarns und Polens vorschreiben wolle, wie sie zu leben hätten, eröffnete der Premierminister den Wahlkampf – den Kampf um seinen Machterhalt, der bei der Parlamentswahl im Frühjahr 2022 erstmals seit zwölf Jahren gefährdet sein könnte.

Nicht, dass Orbán bei seinen Anhängern wesentlich an Rückhalt verloren hätte. Doch dem 58-Jährigen ist in den letzten Wochen ein Gegenspieler erwachsen, mit dem keiner gerechnet hat: Die lange Zeit zersplitterte und chancenlose Opposition hat sich diesmal zu einem gemeinsamen Block zusammengetan und den parteilosen Bürgerlichen Péter Márki-Zay zum Kandidaten gekürt. Er soll nun die sechs Parteien in die Wahl führen, ein sehr inhomogenes Bündnis von links-grün bis rechtsaußen, das vorrangig der Wunsch eint, den so lange unbesiegbaren Premierminister ins politische Aus zu befördern.

Sieg eingefahren

Eine Strategie, die schon gezeigt hat, dass sie funktionieren kann: Im Oktober 2019 gelang es dem grün-liberalen, EU-freundlichen Gergely Karácsony, der Fidesz das Amt des Oberbürgermeisters in Budapest zu entreißen; zumindest auf dem Rathaus der Stadt weht heute neben der ungarischen auch die Europa-Fahne stolz im Wind. Und auch Péter Márki-Zay fuhr schon 2018 als gemeinsamer Kandidat aller Oppositionsparteien in seiner Heimatstadt Hódmezovásárhely, damals eine Hochburg der Orbán-Partei, auf diese Weise den Sieg ein.

Orbán wiederum, dessen rechtsnationale Fidesz im März nach jahrelangem Streit auch mit der Europäischen Volkspartei gebrochen hat, hofft, mit Europa als Reibebaum seine Anhänger erneut in reicher Zahl zu mobilisieren. Die Liste der Konfliktfelder reicht von Orbáns Flüchtlings-, Medien-, Hochschul- und Justizpolitik bis zum Streit um das Homosexuellen-Gesetz; gegen Ungarn läuft unter anderem ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge. Brüssel entschied im Herbst, die Auszahlung von Geldern aus dem Wiederaufbaufonds, mit dem die Pandemiefolgen abgemildert werden, zurückzuhalten – die Kommission wirft Orbán mangelnde Transparenz in der Frage vor, wohin genau die Gelder wandern werden.

Zuerst Brexit, dann "Huxit"


Im Sommer sorgte ein Beitrag in der regierungsnahen Zeitung „Magyar Nemzet“ für Aufregung, der nach dem Brexit einen „Huxit“ vorschlug. Ein Thema, das in Ungarn Umfragen zufolge derzeit jedoch kaum mehrheitsfähig ist. „Wenn Orbán um seinen Machtverlust fürchtet, ist das sein Problem“, meint István, ein Sprach-Student auf dem Universitätsplatz. „Aber warum soll deshalb das ganze Land dafür bezahlen und aus Europa aussteigen?“

Oppositionskandidat Péter Márki-Zay, siebenfacher Vater, Katholik, studierter Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Elektrotechniker und Marketingexperte, gilt als Gegenentwurf zu Orbán und ist ihm weltanschaulich doch ähnlich. Der 49-Jährige beschreibt sich selbst als gläubig und konservativ, doch er kritisiert Orbáns Anlehnung an Russland, dessen Umbau Ungarns zur, wie Orbán selbst es nennt, „illiberalen Demokratie“ und will stattdessen wieder eine Normalisierung des Verhältnisses Ungarns zur Europäischen Union einleiten.
„Márki-Zay vertritt zum Teil ähnliche Positionen wie Viktor Orbán“, sagt der Soziologe Márk Kékesi, „doch anders als der Premierminister ist er nicht der Meinung, dass alle seiner Meinung sein müssen.“ Nicht zuletzt deshalb wird Márki-Zay zugetraut, enttäuschte Orbán-Anhänger auf seine Seite ziehen zu können.

Familien-Förderung

Dennoch sind längst nicht alle von ihm begeistert. „Ich habe letztes Mal für Viktor Orbán gestimmt und werde es wieder tun“, sagt eine junge Mutter, die ihren Kinderwagen durch den Szent István Park schiebt. „Viktor Orbán hat das Elterngeld erhöht, er unterstützt Familien – warum soll ich die Opposition wählen?“ Sie fürchtet, dass auf Ungarn im Falle eines Machtwechsels großes Chaos zukommen könnte.

Flüchtlinge, der Streit um das Homosexuellen-Gesetz, der Streit um Rechtsstaatlichkeit und Mittelvergabe: „Unendlich wird Orbán das Feindbild Europa nicht strapazieren können“, meint Márk Kékesi. Derzeit spiele der Premier bei dem Thema eine Doppelstrategie wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde: „Er wettert gegen Brüssel, wie einst gegen Moskau, wenn es darum geht, dass die EU uns angeblich etwas aufzwingen will. Zugleich schwillt ihm – und uns allen – aber stolz die Brust, wenn Beethovens Ode an die Freude erklingt und wir wissen, dass wir dazugehören zu Europa.“

Ob es Márki-Zay gelingen wird, sein so inhomogenes Bündnis zusammenzuhalten, wird die Gretchenfrage für seine eigene politische Zukunft und jene Ungarns; und das gilt nicht nur für den Wahlkampf, sondern auch für die Zeit danach. So sprach denn auch Márki-Zay am Nationalfeiertag zu seinen Anhängern – und schwor das Oppositionsbündnis darauf ein, Geschlossenheit zu zeigen: „Alles läuft auf eine einzige Frage hinaus: Fidesz oder Nicht-Fidesz.“ Das ist in Ungarn jetzt die Frage.