Herr Beste, wie ist derzeit die Wetterlage zwischen Wien und Berlin?
RALF BESTE: Es war zwischendurch kurz etwas knackiger. Aber ich glaube, es taut längst.

Aus Wiener und Tiroler Sicht herrschen noch die Eisheiligen.
Glaube ich nicht! Es ist doch nachvollziehbar, dass Österreich auf unsere Schutzmaßnahmen an der Grenze zu Tirol hin viele Fragen hatte, die es dringend lösen wollte. Wofür, wenn nicht, um vertrauensvoll miteinander zu reden, haben wir gute Beziehungen? Wir haben uns bemüht, diese Fragen so rasch wie möglich zu klären. Wichtig ist aber auch, dass Österreich unsere Entscheidung für unsere Bevölkerung genauso akzeptiert, wie Deutschland jede Entscheidung Österreichs zum Schutz seiner Bürger.

Tut Österreich das tatsächlich?
Ich höre nichts anderes.

Man hat Sie vor einer Woche immerhin ins Außenministerium gebeten. Hat Sie das überrascht?
Nur im Moment des Anrufs. Es war ein sonniger Sonntagnachmittag und ich war da gerade wandern. Aber dafür sind Botschafter da. Ich kann Ihnen versichern, es war ein wirklich gutes, wichtiges Gespräch.

Ursprünglich wollte die Bundesregierung in Wien selbst Tirol abriegeln, jetzt prügelt sie Deutschland dafür. Ist das Heuchelei?
Die österreichische Regierung leugnet ja gar nicht, dass es in Tirol ein Problem gibt, gegen das man etwas tun muss. Im Gegenteil: Sie hat eine Reisewarnung ausgesprochen und schreibt Leuten, die das Land verlassen wollen, einen negativen Coronatest vor; das wurde jetzt verlängert. Daran, dass Deutschland seine Grenzen schützt, registrieren wir auch keine Kritik. Die Debatte dreht sich eher darum, ob wir zu viel tun und ob es verhältnismäßig ist oder mehr schadet als nützt.

War die Transitsperre für das Deutsche Eck verhältnismäßig?
Diese Frage haben wir uns natürlich gestellt. Deshalb haben wir ja auch einiges modifiziert und für das Deutsche Eck eine sehr akzeptable Lösung gefunden. Aber ich bitte schon auch um Verständnis dafür, dass man in einer Situation, wo in unmittelbarer Nachbarschaft neue Virusvarianten auftauchen, erst einmal einige Schritte braucht, um Klarheit zu gewinnen.

Sind lange Lkw-Schlangen am Brenner das Signal, das die EU in der schwersten Wirtschaftskrise seit ihrer Gründung benötigt?
Dass unsere Wirtschaft leidet, liegt nicht an der EU, sondern an der Pandemie. Und deshalb wollen wir auch keine Virusvarianten, am besten auf keiner Seite der Grenze. Man kann viel darüber reden, was gemeinsam für Europa zu tun ist. Aber in einer Situation, wo schwere epidemiologische Risiken in der Welt sind, ist es doch ein bisschen hoch gegriffen, dass konkrete Schutzmaßnahmen im Kampf gegen eine Seuche den Idealzustand der EU gefährden.

Ist der Firnis der deutsch-österreichischen Freundschaft dünner als gedacht?
Das glaube ich nicht. Sicher ist, dass nach einem Jahr Pandemie alle etwas angespannt sind und die Geduld und das Verständnis füreinander in den Grenzbereich kommen. Die jüngste Debatte ist vielleicht ein Ausweis dafür. Gerade in so einer Situation ist es dann geboten, miteinander zu sprechen und nicht sofort mit dem Finger auf die jeweils anderen zu zeigen.

Ischgler Stillleben. Von der Après-Ski-Bar „Kitzloch“ aus verbreitete sich das Coronavirus über Deutschland und Europa
Ischgler Stillleben. Von der Après-Ski-Bar „Kitzloch“ aus verbreitete sich das Coronavirus über Deutschland und Europa © (c) Getty Images (Sean Gallup)

Wenn man dem Ministerpräsidenten Bayerns, Markus Söder, zuhört, dann könnte man meinen, der Teufel sei ein Tiroler.
Jetzt zeigen Sie mit dem Finger. Ehrlich, wir sollten uns alle nach Kräften bemühen, in dieser schwierigen Phase ruhig Blut zu bewahren, miteinander zu reden und zu bedenken, dass die Handlungen des anderen meistens nicht aus Bosheit begangen werden, sondern oft aus Sorge.

Jetzt spricht der Diplomat, was sagt der ehemalige Journalist?
Sie kennen die Politik genauso gut wie ich. Aber denken Sie daran, dass es sehr viele Menschen in Deutschland gibt, die sich ehrliche Sorge machen über die unkontrollierte Verbreitung des Virus. Und auch wenn viele in Tirol das jetzt für unfair halten: Ischgl steht als Chiffre dafür – nicht als Schuldzuweisung, sondern aus Sorge vor der Wiederholung. Dazu kommt, dass sich die Deutschen nicht anders als die Österreicher mit viel Überwindung und Disziplin um die Eindämmung des Virus bemühen und sich nicht um die Früchte ihrer Anstrengungen bringen lassen wollen. Das ist doch sehr menschlich. Ich meine, wir Deutschen sind weder Engel noch Roboter. Wir machen nicht alles richtig, uns fällt aber auch nicht alles maschinell leicht. Auch in Deutschland gibt es Nervosität und ein großes Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz. Die Leute reagieren sensibel auf die Gefahren jenseits der Grenzen. Sie erwarten sich, dass ihre Regierung handelt. Das ist legitim. Das muss man auch in Rechnung stellen.

Gefällt sich Österreich grundsätzlich gern in der Opferrolle?
In den letzten Monaten ist manches sehr persönlich genommen worden, was es nie war. Erinnern Sie sich an die deutschen Reisewarnungen im Herbst? Damals wurde gemutmaßt, ob das jetzt die Retourkutsche für Ischgl sei. Aber diese Frage hat sich aus deutscher Sicht nie gestellt, weil wir uns an den Zahlen orientiert haben. Das mag kühl und distanziert wirken, scheint uns aber der beste Weg, den Eindruck zu vermeiden, dass wir aus besonderer Abneigung gegen einen Nachbarn handeln. Das versuchen wir auch heute: Tatsächlich treffen unsere Maßnahmen ja nicht nur Tirol, sondern auch ganz Tschechien und die ganze Slowakei.

Warum nehmen viele in Österreich es trotzdem persönlich?
Das hat vielleicht mit der Enge des Verhältnisses zu tun, möglicherweise auch mit der historischen Verflechtung und der sprachlichen und kulturellen Nähe. Und natürlich auch mit dem Größenverhältnis. Mich hat überrascht, wie sehr in Österreich der stete Vergleich mit Deutschland gesucht wird. Die Österreicher kennen Deutschland erheblich besser als die Deutschen Österreich. Aber manchmal denke ich, dass sie uns doch nicht ganz so gut kennen, wie sie meinen. Zu erklären, wie wir Deutsche ticken, ist für mich daher eine Herausforderung.

Sie sind jetzt eineinhalb Jahre in Wien. Wie sehr hat sich Ihre Sicht auf Österreich verändert?
Sie wurde revolutioniert. Ich erlebe stets aufs Neue, wie groß die Unterschiede sind. Die Sprache ist zwar ähnlich, der Rest ist völlig anders. Was mich vor allem beeindruckt, ist der Glaube der Österreicher an die Schönheit ihres Landes. Und dann gibt es in Österreich vielleicht auch mehr Schlupf.

Was ist das, Schlupf?
Sie kennen den Begriff nicht?

Nein.
Eigentlich ein technischer Begriff, ein Ruckeln bei der Kraftübertragung. Im übertragenen Sinn: Man gönnt sich etwas Freiraum, ein Hintertürchen, ein Schlupfloch. Deutsche lieben Regeln, Österreicher haben einen besseren Blick für die Auswege. Das wirkt entspannend und ziemlich sympathisch.

Ist das jetzt eine Liebeserklärung?
Vielleicht halten Österreicher eine gewisse Ambivalenz besser aus als Deutsche, die oft die klare Kante bevorzugen. Das macht das Land für einen ausländischen Betrachter auch so interessant und charmant. Kürzlich habe ich nach über 20 Jahren wieder den „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth gelesen. Darin wird der alte Kaiser geschildert, wie er das Gefühl hat, die Menschen liebten ihn nicht mehr. „Da kann man nichts machen“, seufzt der Kaiser. Und der Kommentar von Roth: „Denn er war Österreicher ...“ Er hat da tatsächlich die drei Pünktchen gesetzt, wohl das einzige Mal im Buch. Diese Fähigkeit, sich mit den Dingen abzufinden, setzt im täglichen Leben Impulse der Leichtigkeit. Aber sie lässt mich zugleich auch die eigene Strenge spüren.