Herr Schwertner, Sie sind Geschäftsführender Direktor der Caritas der Erzdiözese Wien und derzeit mit Katastrophenhelferin Daniela Pamminger auf Lesbos. Wie ist die Lage?
KLAUS SCHWERTNER: Absolut verheerend und besorgniserregend. Nach dem Brand von Moria vor einem Monat hieß es von offizieller Seite noch: Jetzt wird alles anders. Jetzt sehen wir: An den Bedingungen, unter denen tausende Menschen – 40 Prozent von ihnen sind Kinder – hier leben, hat sich wenig zum Positiven verändert. Diese Woche führten heftige Unwetter mit Starkregen und Sturm erneut dazu, dass viele Zelte weggeblasen wurden und unter Wasser standen. Die Menschen haben bis zuletzt versucht, Sandsäcke zu füllen und Dämme zu errichten. Wie es hier in wenigen Wochen aussehen wird, wenn der Winter Einzug hält, ist völlig offen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. An einer Sofortevakuierung der Lager auf den Inseln führt kein Weg vorbei, denn auch auf Samos und Chios ist die Lage für geflüchtete Menschen äußerst prekär und menschenunwürdig. Andernfalls ist die nächste Katastrophe bereits vorprogrammiert. Die gute Nachricht: Alle Staats- und Regierungschefs guten Willens können diese Katastrophe verhindern. Es ist ja keine Frage des Könnens, sondern des Wollens.



Werden die zuletzt abgefackelten Lager wieder fest errichtet – oder werden die Menschen vor Ort weiter in Zeltstädten leben?
SCHWERTNER: Aktuell leben laut UNHCR rund 7800 Menschen im Lager, 40 Prozent davon sind Kinder – einige Hundert wurden bereits aufs Festland gebracht. Weitere Transfers von Samos und Chios sollen folgen. Für die anderen heißt es weiter warten. Wie es mit dem Lager mittelfristig weitergeht, kann derzeit niemand seriös sagen. Bislang gibt es Absichtserklärungen seitens der EU-Kommission, dass aus dem neuen provisorischen Camp Kara Tepe kein zweites Moria werden soll. Doch jedes Zelt (die meisten sind weder wind- noch wasserdicht und ohne Boden), das hier zusätzlich aufgestellt wird, muss skeptisch stimmen: Dieser Weg führte schon einmal in eine Katastrophe. Das kann keine Lösung sein. Ich hoffe, diese Einsicht setzt sich durch – in Athen, Brüssel und Wien.

Viele Zelte wurden weggeblasen und/oder standen unter Wasser
Viele Zelte wurden weggeblasen und/oder standen unter Wasser © Caritas


Moria, eine Katastrophe mit Anlauf: Gibt es derzeit Gewalt?
SCHWERTNER: Nein, die Menschen sind zwar verzweifelt, aber die Sicherheitslage ist aktuell stabil. Die Polizeipräsenz im neuen Camp wurde massiv verstärkt. Die Konsequenz kann nicht sein, tausende Menschen wegen einer Verzweiflungstat einiger weniger (aktuell sind fünf Personen wegen des Verdachts der Brandstiftung in Untersuchungshaft, Anmerkung) unter Generalverdacht zu stellen.

Klaus Schwertner mit der Katastrophenhelferin Daniela Pamminger
Klaus Schwertner mit der Katastrophenhelferin Daniela Pamminger © Caritas



Wie leistet Europa Hilfe?
SCHWERTNER: Die Hilfe, die geleistet wird, ist wichtig. Das Problem ist aber: Es werden Symptome bekämpft, nicht die Ursachen. Europa hat schon 2016 ein Umsiedlungsprogramm gestartet, bei dem Geflüchtete aus Griechenland in EU-Staaten gebracht wurden. Anders als von vielen behauptet, hatte dies keinen Anstieg der Neuankünfte und auch nicht der Toten im Mittelmeer zur Folge. Ein ähnliches Programm wäre auch heute nötig. Die Bundesregierung sollte Hilfe in jenen Orten in Österreich möglich machen, die sich bereit erklärt haben, eine überschaubare Anzahl an Familien und Kindern bei sich aufzunehmen. Es ist schon richtig: "Wir können nicht alle retten!" Niemanden zu retten, sollte aus der Sicht Österreichs mit seiner langen humanitären Tradition jedenfalls keine Option sein.

Was können Sie über den Verbleib der Hilfslieferungen aus Österreich sagen? Wo steckt dieser Transport fest – und warum?
SCHWERTNER:Es war gut, dass Österreich rasch mehr finanzielle Mittel für Griechenland, aber auch für den Auslandskatastrophenfonds insgesamt bereitgestellt hat. Was die Hilfslieferung der Bundesregierung anbelangt: Laut Medienberichten kamen diese Hilfsgüter bislang noch nicht zum Einsatz. 55 Tonnen Decken, Planen und Hygienepakete lagern offenbar noch in einer Halle bei Athen. Warum das so ist, wissen wir nicht.

Das neue provisorische Camp Kara Tepe soll kein zweites Moria werden
Das neue provisorische Camp Kara Tepe soll kein zweites Moria werden © Caritas



Wie verhalten sich die griechischen Behörden derzeit?
SCHWERTNER:
Positiv ist anzumerken, dass die Asylverfahren rascher abgewickelt werden. Anfang des Jahres waren noch rund 40.000 Geflüchtete auf den Ägäisinseln, heute sind es nach Transfers aufs Festland zwischen 20.000 und 25.000. Die Situation für Geflüchtete ist in Griechenland aber seit vielen Jahren alles andere als menschenwürdig. Athen hat es bis heute trotz enormer EU-Mittel nicht ausreichend geschafft, einen menschenrechtskonformen Umgang mit Menschen zu finden. Hilfe, die die Caritas und viele andere leisten, kann eine politische Lösung nicht ersetzen.

Wälzt Europa nicht auch Verantwortung auf Griechenland ab?
SCHWERTNER: Gleichzeitig fühlt sich Griechenland von der EU im Stich gelassen und hält so wie andere Regierungen in der EU an dem Modell der Abschreckung fest. Dass dies nicht funktioniert, wird auf den griechischen Ägäisinseln schmerzhaft sichtbar – für die lokale Bevölkerung wie auch für die Geflüchteten.

Was fehlt am dringendsten?
SCHWERTNER: Nach dem Brand von Moria wurde sehr rasch von den griechischen Behörden reagiert, um die Obdachlosigkeit zumindest mit dem neuen Zeltlager zu beenden. Aber während wir unsere Kinder in Österreich mit Masken in die Schulen schicken und Pflegewohnhäuser vor Corona schützen, ist es uns gleichzeitig egal, dass tausende Kinder und alte Menschen auf griechischen Ägäisinseln und immer mehr auch am Festland im Dreck dahinvegetieren und dem Virus schutzlos ausgesetzt sind. Bis heute gibt es im neuen Lager keine einzige Dusche. Diese Menschen auf Lesbos waschen sich im Meer.