Frau Rhayem, Sie leben und arbeiten in Beirut – wie erleben Sie die Situation?

RITA RHAYEM: Ich glaube nicht, dass ich Worte finde, die beschreiben, wie schlimm die Lage ist und die unseren Schmerz ausdrücken können. Wir stehen vollkommen unter Schock. Viele Menschen sind tot oder werden noch vermisst; viele sind schwer verletzt und haben keine Wohnung mehr, in der sie übernachten können. Unzählige Geschäfte und Unternehmen sind von einer Sekunde auf die andere verschwunden, und damit die Möglichkeit, dort zu arbeiten. Für zahllose Menschen in Beirut bedeutet die Situation: Ihre Zukunft wurde zerstört.



Wie haben Sie selbst den Moment der Explosion erlebt?

RITA RHAYEM: Ich befand mich etwa 20 Minuten vom Stadtzentrum entfernt, und doch dachte ich, die Explosion findet direkt neben mir statt, so heftig war sie. Ich dachte, mein Kopf zerspringt. Ich sah, wie am Haus gegenüber der Balkon einfach abbrach und zu Boden fiel. Es war eine unwirkliche und furchtbare Situation.



Wie sehr ist die Caritas und ihre Einrichtungen betroffen?

RITA RHAYEM: Unsere Büros in der Innenstadt sowie unsere Einrichtungen wurden stark beschädigt. Türen und Fenster wurden durch die Druckwelle durch die Räume geschleudert. Eine unserer Kolleginnen hatte nur einige Minuten vor der Explosion ihren Schreibtisch verlassen, um in die Küche zu gehen. Ihr Laptop wurde vom Tisch geschleudert, Tür und Fenster prallten auf ihren Schreibtisch und zerschlugen das Holz. Es ist pures Glück, dass sie noch am Leben ist. Zugleich bin ich froh, dass sich das alles nach Büroschluss in Beirut ereignete und sich nicht mehr so viele Menschen in den Gebäuden im Zentrum aufhielten – sonst wäre es noch schlimmer ausgegangen.

Wie werden Sie jetzt vorgehen?

RITA RHAYEM: Die Caritas hat einen Krisenstab eingerichtet, wir arbeiten rund um die Uhr. Noch in der Nacht sind unsere Helfer und auch Jugendliche aus unseren Projekten in die Straßen ausgeschwärmt, um jenen zu helfen, die plötzlich ihr Dach über dem Kopf verloren haben, unter Schock stehen und Zuspruch brauchen. Der Schutz und die Versorgung der Menschen haben nun oberste Priorität. Zudem helfen wir bei den Aufräumarbeiten – die ganze Stadt ist voller Trümmer. Allerdings ist auch die Kommunikation schwierig, weil Stromnetz und Internet teilweise ausfallen. Dass der Hafen als Lebensader nach außen vollkommen außer Kraft gesetzt ist, gefährdet die Versorgung der Bevölkerung.

Viele Länder haben dem Libanon Unterstützung zugesagt. Wie kann man am besten helfen?

RITA RHAYEM: Wir sind sehr froh über die Hilfsbereitschaft. Aber es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass diese Krise nicht von heute auf morgen vorbei sein wird. Wertvolle Infrastruktur wurde zerstört, die wieder aufgebaut werden muss. Dazu kommt, dass wir es gleichzeitig und zuvor schon mit der Corona-Virus-Krise zu tun hatten, zudem mit einer Wirtschaftskrise, bei der die Währung 80 Prozent ihres Wertes und die Menschen große Teile ihres Einkommen verloren haben. Als Nachbarstaat Syriens hat der Libanon zudem tausende Flüchtlinge aufgenommen und unterstützt. Es ist eine Mehrfach-Krise auf fast allen Ebenen, und ich kenne viele Menschen, die schon vor dieser grauenhaften Explosion das Gefühl hatten, sie können all das nicht mehr verkraften. Im Moment kann ich nur sagen: Wo immer man hinsieht, wird Hilfe benötigt.

Wie stehen Sie das alles durch?

RITA RHAYEM: Die Lage ist erschütternd und unfassbar, aber ich weiß zugleich auch, dass die Menschen hier schon sehr viele Katastrophen gemeistert haben. Wir werden trotz allem nicht aufgeben. Ich bin sicher, Beirut wird sich aus seiner Asche wieder erheben.