Schweden hat anscheinend nicht weniger Corona-Fälle als andere EU-Länder. Dennoch geht das Land einen auffällig laxen Weg bei der Corona-Bekämpfung. Dafür gibt es Lob für die Verhältnismäßigkeit der Mittel, aber auch viel Kritik. Fast alles bleibt geöffnet. Die Restaurants arbeiten ungestört weiter, wenngleich nur am Tisch serviert werden darf, nicht mehr an der Bar.

Whiskey Sour

Das Nachtleben in Göteborg oder Stockholm war so auch am Wochenende nicht kleinzukriegen. In der Bar Tjoget im hippen Stockholmer Stadtteil Hornstull ist es 22.23 Uhr. Aus den Lautsprechern ertönt Musik, Gläser klirren, Stimmengewirr überall. Am Fenster sitzen Ebba (32) und ihre Freundinnen Tova (28) und Agens (32) in Schlaghosen und Turnschuhen. Die Neunziger sind zurück. Die Bar ist nicht gefüllt wie sonst, aber doch voll. Habt ihr keine Angst? „Ach, jüngere Leute werden ja kaum krank vom Virus, außerdem würden die Bars ja geschlossen, wenn das so gefährlich wäre“, sagt Ebba und nippt an ihrem Whiskey Sour. Ein wenig Unsicherheit hört man dennoch in Ebbas Stimme. „Ich bin nur vorsichtig, was meine Eltern und Großeltern angeht. Die besuche ich jetzt einmal nicht, um sie nicht zu gefährden“, fügt sie hinzu.

Tatsächlich steppt in Schweden noch immer der Bär, wenn auch um einiges verhaltener. So wurde noch vor wenigen Tagen aus den nordschwedischen Skigebieten von wilden, feuchtfröhliche Après-Ski-Partys berichtet. Diese hätten bis zu 499 Teilnehmer – weil alles ab 500 verboten ist. Der Skiort Åre wurde deshalb das „schwedische Ischgl“ genannt. „Auf der schwedischen Titanic spielt noch die Musik“, kommentiert die Zeitung SvD kritisch. Erst jetzt, wo die Kritik stärker wird, schlossen die Skibars.

Stoßzeiten

Auch im Fitnessstudio Friskis & Svettis ist die Reihe mit den dicht aneinandergereihten Laufbändern voll besetzt. Auch zu Stoßzeiten haben Bibliotheken und Geschäfte geöffnet, auch die Volksschulen und Kindergärten. Jede Anstalt darf jedoch selbst entscheiden, falls sie doch schließen möchte. Gymnasien, Universitäten und Berufsschulen sind dagegen geschlossen worden, Schüler und Studenten erfahren Fernunterricht. Nur Arbeitnehmern in den wenigen Großstädten Schwedens wurde empfohlen, von daheim aus zu arbeiten.

Sogar die Kinos hätten offen bleiben können, heißt es vom Gesundheitsamt, auch wenn sich viele Betreiber dennoch zur Schließung entschieden haben. Vermutlich, weil die Leute ihrer Behörde nicht ganz trauen und trotzdem wegbleiben. In Schweden überwiegt die Freiwilligkeit; härtere Maßnahmen sind – noch? – keine in Sicht, auch wenn Ministerpräsident Stefan Löfven am Sonntagabend eine Rede an die Nation hielt, in der er den Ernst der Lage verdeutlicht und sein Volk ermahnt und erneut die Empfehlung von Regierung und Behörden wiederholt: Bleibt zu Hause – auch wenn ihr euch nur leicht krank fühlt.

Umstritten

In Schweden lassen die Politiker in erster Linie die Experten der nationalen Gesundheitsbehörde über die Virus-Eindämmungspolitik des Landes entscheiden. Vor allem Anders Tegnell (63), Arzt mit Philosophie-Doktortitel und Staatsepidemiologe, trägt die Hauptverantwortung für die rund zehn Millionen Schweden. Er ist kein Medientyp. Bei seinen ständigen TV-Auftritten mit Brille, etwas schiefem Lächeln und einem eher alternativen Kleidungsstil wirkt er trotzig unsicher und ist derzeit einer der umstrittensten Männer des Landes. Sein Chef vom Gesundheitsamt ermahnte die Bürger: Es sei unwürdig, wie derzeit alle auf Tegnell herumhacken würden, sagte er. Die bürgerliche Zeitung „Expressen“ feiert den Staatsepidemiologen in einer Analyse dennoch als Helden, weil er Standhaftigkeit beweise gegen wissenschaftlich angeblich nicht fundierten, aber bei Wählern gut ankommenden Aktionismus der Politiker in anderen Ländern.

Es werden noch mehr sterben

Tegnell beschönigt aber auch nichts. Er sagt, dass die schlimmste Phase noch nicht erreicht ist, dass noch mehr sterben werden. Auch stehen laut Umfragen die meisten Schweden hinter der laschen gegenwärtigen Corona-Eindämmung. Andere, darunter auch eine Gruppe von Fachärzten für Infektionskrankheiten, halten sie für verantwortungslos. Die Zahl der offiziell bestätigten Corona-Kranken liegt bei über 1400. In Schweden gab es bis Dienstagmittag 2272 Infektionsfälle. 36 Menschen sind bisher an der Infektion gestorben. Tegnell sagt aber offen, es sei nur die Spitze des Eisberges. Insgesamt könnte es inzwischen weit über 100.000 Infizierte geben.

Der so gut wie einzige Rat, den Tegnell wie Löfven ständig wiederholen, ist der, dass alle, die sich auch nur leicht erkältet fühlen, zu Hause bleiben sollen. Die Schweden sind im Allgemeinen sehr genau und verantwortungsbewusst. Die Altenheime und schwer kranke Menschen versucht das Land durch Abriegelung und die Bitte, daheimzubleiben, zu schützen. Schwedens privater und staatlicher Sektor sind zudem viel digitalisierter als der im deutschsprachigen Raum. Internetvideoarzt, Krankenschwester und Psychologendienste werden schon lange von der staatlichen Einheitskrankenkasse getragen und vom Volk genutzt. Von dort aus können elektronische Rezepte ausgestellt werden und entschieden werden, wer Hilfe braucht.