Eines der ersten Geräusche, das die kleine Naja in ihrem Leben gehört hat, ist die Explosion einer Rakete im Nachbarhaus. Samah Keshta nimmt das Baby fest in den Arm und schaut ihr in die tiefschwarzen Augen. Dann weint die 29-Jährige, aus Scham darüber, wie sie später erzählt, dass sie ihre Tochter zur Welt bringen musste, ohne ihr das Allernötigste geben zu können. Naja kam am 11. November um 13 Uhr im Spital in Rafah im südlichen Gazastreifen per Kaiserschnitt zur Welt.
Der Krieg begann am 7. Oktober, als militante Hamas-Kämpfer aus dem Gaza in Israel einfielen und dort mindestens 1200 Menschen töteten und mehr als 200 als Geiseln nahmen, unter ihnen kleine Kinder und alte Menschen. Seither sitzen die rund 2,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Gazas in der Falle. Israel hat die Versorgung mit Strom, Treibstoff und Lebensmitteln stark begrenzt, nur wenige Menschen durften bisher den Küstenstreifen verlassen. Wer da ist, lebt mit der Angst vor Luftangriffen und Bomben. Mindestens 13.000 Palästinenserinnen und Palästinenser sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums von Gaza bei den israelischen Militärschlägen getötet worden – darunter viele Frauen und Kinder.
Khan Younis hat nun doppelt so viele Einwohner
Keshta und ihre Familie leben in Rafah an der Grenze zu Ägypten, ungefähr 30 Kilometer südlich der Stadt Gaza und 20 Kilometer südlich einer von Israel festgelegten Evakuierungsgrenze. In einer Klinik in ihrem Wohnort hat die Hebamme ihre Tochter zur Welt gebracht. Kurz nach Najas Geburt sah Keshta von einem Fenster im Krankenhaus aus, wie ein Nachbarhaus bei einem Luftangriff zerstört wurde. „Ich hatte Angst und habe sie ganz fest gehalten“, erzählt Keshta. „Ich hatte Angst, dass auch wir jeden Moment bombardiert werden könnten.“ Später hätten ihr Krankenschwestern erzählt, dass in dem Haus Menschen ums Leben kamen.
Reuters hat in Gaza ein Team von acht Mitarbeitenden, die ursprünglich ihr Büro in Gaza-Stadt hatten, inzwischen aber – wie Hunderttausende andere auch - mit ihren Familien nach Khan Younis gezogen sind, eine Stadt ungefähr sechs Kilometer entfernt. Ein Reuters-Reporter lernte Keshta im Nasser-Krankenhaus in Khan Younis kennen, wo sie als Hebamme arbeitet. Die Aussagen in diesem Bericht basieren auf Recherchen der Reuters-Reporter in diesem Krankenhaus und der nahe liegenden Leichenhalle sowie den täglichen Erlebnissen und Beobachtungen in Khan Younis seit Anfang November.
Khan Younis ist eine staubige Stadt, die sich über das gleichnamige Flüchtlingslager vom Grenzzaun zu Israel bis an die Mittelmeerküste erstreckt. Normalerweise leben hier ungefähr 440.000 Menschen – inzwischen sind es sicherlich doppelt so viele. Der Gemüsemarkt der Stadt hat noch geöffnet, aber die Preise sind doppelt so hoch wie vor dem Krieg. Vor den Bäckereien stehen die Menschen stundenlang Schlange, um ein Stück Brot zu bekommen. Glücklich können sich die wenigen schätzen, die eigene Solaranlagen zu Hause haben und dadurch Wasser aus einem Brunnen pumpen und ihre Handys aufladen können. Die meisten anderen müssen mit Containern an öffentlichen Wasserleitungen anstehen.
Auch wenn das israelische Militär vor allem im Norden des Gazastreifens kämpft, ist Khan Younis nicht von den täglichen Angriffen israelischer Kampfflugzeuge oder Raketen verschont geblieben. Die Hamas und die mit ihr verbündete Extremistenorganisation Islamischer Jihad wiederum feuern alle paar Tage Raketen in Richtung Israel.
Nur wenige durften bisher aus Gaza ausreisen
Das israelische Militär hat erklärt, militärische Ziele im Einklang mit dem Völkerrecht anzugreifen und alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel spezielle Warnungen an Einwohnerinnen und Einwohner zu verteilen, bevor bestimmte Gegenden bombardiert werden. Inzwischen hat Israel auch die Bevölkerung in einigen Vierteln im Osten Khan Younis aufgefordert, von dort wegzuziehen. Doch einen echten Ausweg gibt es nicht, wenn überhaupt dürfen praktisch nur Menschen mit ausländischem Pass Gaza verlassen.
Nur wenige Schritte von der Geburtsstation des Krankenhauses von Khan Younis entfernt liegt die Leichenhalle, in der Said Al-Shorbadshi die Toten zu ihrer letzten Ruhe begleitet.
Der 50-Jährige ist auf Freiwillige angewiesen, die ihm bei der Arbeit helfen. Shorbadshi und sein Team identifizieren die Toten, wickeln sie in weiße Tücher und bereiten sie für die Totengebete und die Beerdigung vor. Familienangehörige können sich in der Leichenhalle von den Verstorbenen verabschieden und für sie beten. Ist keiner mehr da, oder sind es zu viele Tote, übernehmen Freiwillige aus dem Krankenhaus diesen Dienst. In das Stimmengewirr von Totengebeten und Trauerrufen mischen sich Rufe von Händlern, die Tee, Kaffee oder Zigaretten zu überhöhten Preisen verkaufen wollen. Immer wieder kommt es wegen Wasser oder Lebensmitteln zu Handgreiflichkeiten.
Nicht mehr als ein Haufen Fleisch
Shorbadshi sagt, mit dem Krieg werden extreme Gefühle in das Gebäude gespült. Einige kämen nicht damit zurecht, dass ihre Liebsten – die doch im Leben so auf ihr Verhalten, auf ihre Kleidung geachtet hätten – von israelischen Bomben zur Unkenntlichkeit entstellt worden seien. Einige Tote seien nicht mehr als ein Haufen Fleisch, erzählt Shorbadshi. „Wir haben drinnen einen Vater, der seinen zweijährigen Sohn im Arm hielt, als er ums Leben kam, und er umarmt ihn immer noch. Wir konnten die beiden nicht trennen, und so werden sie jetzt gemeinsam beerdigt.“
Auch er selbst habe Familienmitglieder verloren, sagt Shorbadshi. Ein junger Mann aus der weiteren Verwandtschaft sei ums Leben gekommen. Er habe auf seine Leiche gewartet. Doch dann habe der Vater des jungen Mannes angerufen, die Leiche habe in einem Massengrab beerdigt werden müssen, der Körper sei zerfetzt gewesen und habe nicht von anderen Toten getrennt werden können. Am nächsten Tag sei der Vater trotzdem zur Leichenhalle gekommen. Auf die Frage, warum, habe er gesagt: „Mein Sohn ist tot und beerdigt. Ich bin gekommen, um Blut zu riechen. Ich habe sein Blut nicht gerochen und ihn nicht einmal mehr gesehen.“ Shorbadshi bricht die Stimme, während er die Geschichte erzählt. Er macht eine Pause, fährt dann fort: „Ich konnte nichts mehr sagen. Ich hatte einen Schock. Ich habe ihn stehen lassen und bin weggegangen. Ich habe es nicht einmal gewagt, mein Beileid auszudrücken.“
Bevor Keshta Naja zur Welt gebracht hat, hat sie anderen Frauen bei der Geburt geholfen. Bis vor Kurzem stand sie jeden Tag frühmorgens auf, um eine Stunde lang von Rafah aus zur Arbeit in die Klinik von Khan Younis zu laufen. Manchmal sei sie durch den Schutt gelaufen, der nach einem Luftangriff auf der Straße lag, erzählt sie. „Das sind die Momente, die ich nie vergessen werde.“
Auf dem Weg zum Klinikeingang musste sie an Zelten auf dem Parkplatz der Klinik vorbei, welche die Flüchtlinge aus dem Norden des Gazastreifens dort aufgeschlagen haben. Das Krankenhaus dient als Unterschlupf; auf den Gängen und in den Treppenhäusern drängen sich spielende Kinder, auf Plastikstühlen sitzen ältere Menschen. Überall liegen Matratzen, Kleidung, Koffer. Es riecht nach einer Mischung aus Blut, Urin, Fäkalien und ungewaschener Haut.
50.000 Schwangere in Gaza
Walid Abu Hatab, der Leiter der Geburtsstation, spricht von einer Gesundheitskrise für die ungefähr 50.000 schwangeren Frauen in Gaza – eine Zahl, die auch die Vereinten Nationen bestätigen. In Khan Younis komme es zu einem Fünftel mehr Fehlgeburten, sagt er. In seiner Klinik grassiere die Krätze. In den Räumen, die für Kaiserschnittgeburten vorgesehen sind, werden jetzt Verletzte behandelt. „Harte Zeiten, harte Maßnahmen“, sagt Abu Hatab.
Keshta wollte eigentlich ihr Baby per Kaiserschnitt Ende Oktober zur Welt bringen, verschob den Termin jedoch in der Hoffnung auf einen Waffenstillstand. Doch Naja konnte darauf nicht warten. Einen Tag nach der Geburt brachte ein Krankenwagen Keshta und ihr Baby so nah zu ihrer Wohnung wie möglich. „Ich bin nach dem Kaiserschnitt und mit dem Baby eineinhalb Stunden lang gelaufen“, sagt Keshta. Zu Hause warteten ihre drei älteren Kinder, ihre Eltern und ihr Mann. Jeder Tag ist ein Kampf um das Nötigste, oft gibt es nur Tee und die Dattelkekse, welche eine UN-Hilfsorganisation nach Gaza bringt.
Wenn sie wieder fit ist, und sollte der Krieg bis dahin vorbei sein, will Keshta ab Jänner wieder in der Geburtsstation in Khan Younis arbeiten. „Diese Abteilung ist wie ein Fenster zu Hoffnung und Licht“, sagt sie. Man höre Bomben, Sirenen, das Kreischen der Familien, in denen jemand gestorben ist, und das Schreien der Frauen, die in den Wehen liegen. „Jedes Mal, wenn ich einer Frau bei einer Geburt helfe, jedes Mal, wenn ich ein Neugeborenes in den Händen halte, danke ich Gott. Ich bin glücklich, dass Gott uns neues Leben geschenkt hat.“