Die digitale Welt ist ein einziges Fotoalbum, möchte man meinen. Das Smartphone macht uns zu Hobbyknipsern, lässig aus der Hüfte geschossen und die Bilder schwupp im Netz veröffentlicht. Und dann gibt es Christine Sonvilla und Marc Graf, die vermutlich gerade jetzt oder heute ganz früh am Morgen oder heute Abend auf der Lauer liegen: als „Moosmännchen und Moosweibchen“ im Camouflageanzug und mit Tarnnetz, die Kamera im Anschlag. Und sie warten und warten – manchmal Tage, manchmal auch Wochen, bis jemand im Sucher auftaucht: der Wolf, der Bär, der Luchs. Und es zeigt sich, dass selbst die, die ihnen auf den Fersen sind, schon mit viel Glück, aber mit noch mehr Gespür ausgerüstet sein müssen, um ihnen zu begegnen. Dieses Gespür ist bei den beiden Biologen, die auch privat ein Paar sind, gut ausgeprägt, auf über 200 Bärenbegegnungen können sie bislang verweisen. Doch nur um die zum Teil preisgekrönten Bilder geht es ihnen nicht vorrangig, so Marc Graf: „Uns geht es um das naturfotografische Denken. Wir haben nicht zwingend die schönen Bilder im Kopf, diese klassischen Naturfotos, sondern die Geschichten, die wir damit erzählen wollen.“

Ihre aktuellste Geschichte haben sie in Buchform gegossen: „Das wilde Herz Europas. Die Rückkehr von Luchs, Wolf und Bär“. Das ist nicht nur ein klassischer Bildband mit atemberaubenden Bildern, sondern vielmehr ein Plädoyer dafür, „unser wildes Herz zu aktivieren“, so die beiden Naturkommunikatoren mit Hauptquartier in Mürzzuschlag: „Wir sehen uns als Botschafter der Natur, und das zeigt sich in all unseren Arbeiten. Ob wir für Universum filmen, für „National Geographic“ fotografieren oder einen Bildband herausbringen.“ Das aktuelle Buch widmet sich den Raubtieren wie Wolf, Bär und Luchs, die bei uns nicht immer uneingeschränkt willkommen sind: „Wir hoffen, dass dieses Buch für unsere wenig raubtieraffine Welt ein bisschen ein Augenöffner ist“, so Christine Sonvilla.

Eine Braunbärin mit ihren beiden Jungen
Eine Braunbärin mit ihren beiden Jungen © Christine Sonvilla, Marc Graf/Knesebeck Verlag

Es ist ein Paradoxon einer Wohlstandsgesellschaft, die in hohem Maße von Natur träumt und sie exzessiv als Dokus im Fernsehen konsumiert. Dabei ist das, was wir unter Natur verstehen, oft nicht mehr als verwilderter Kulturraum denn ein Naturraum. Die Zahlen der Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Österreich belegen das: So macht das Wildnispotenzial Österreichs, also jene Flächen, die kaum oder gar nicht vom Menschen beeinflusst sind, gerade einmal rund 185.000 Hektar oder 2,2 Prozent der gesamten Staatsfläche aus. Durch Renaturierungsmaßnahmen könnte man dieses Potenzial auf 8,3 Prozent erhöhen.

Viele würden die Veränderung in der Natur grundsätzlich nicht bemerken. „Shifting Baseline“ ist der Fachbegriff dafür, so die Biologen: Aufgrund fehlender Erfahrungswerte erkennt man die fortschreitenden Veränderungen – etwa in einem Ökosystem – gar nicht: „Wenn du 20 Jahre in die Vergangenheit schaust, hattest du vielleicht noch artenreiche Wiesen, aber durch die Intensivierung der Landwirtschaft sieht man heutzutage meist nur noch Löwenzahnwiesen, aber das fällt vielen dann gar nicht auf“, so die gebürtige Kärntnerin Sonvilla, die hier klar einen Auftrag sieht: „Wir müssen ein Verständnis dafür schaffen, was eine intakte Natur eigentlich ist.“

Aus der Lausitz in Deutschland kommen Wölfe rund 400 Kilometer weite bis nach Allentsteig
Aus der Lausitz in Deutschland kommen Wölfe rund 400 Kilometer weite bis nach Allentsteig © Christine Sonvilla, Marc Graf/Knesebeck Verlag


Basisarbeit leisten, das wollen die beiden auch bei Bär, Wolf und Luchs, so Marc Graf: „Wir sind überhaupt keine Wolfs- und Bärenliebhaber, die irrational meinen, sie gehören unbedingt wieder in unsere Wälder. Das muss mit Bedacht und Respekt beiderseits geschehen und mit Zeit.“ Zentral ist für sie jedoch, dass Gegner wie Befürworter in einen Dialog treten und gleichzeitig Vorurteile abgebaut werden, wie Sonvilla ergänzt: „Oft gibt es ganz tief eingefahrene Vorstellungen, die emotional stark aufgeladen sind. Wir hoffen einfach, dass wir diesen Überschuss an Emotionen abtragen können. Es gibt Lösungen, und die muss man einfach miteinander gestalten.“

Das ist auch der Ansatz, den Graf und Sonvilla mit ihrem Buch verfolgen: Hier kommen Experten und Betroffene, vom Hirten bis zum Jäger, zu Wort. Es geht um eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema Natur: Was ist ein Wald? Was ein Urwald? Sie blicken auf Flüsse und Gebirge und stellen die Frage nach der Vereinbarkeit von Natur und Tourismus. Seit dem Jahr 2016 reiften einige Bildideen, die im Buch zu finden sind. Viele Bilder sind erst nach tage- oder wochenlangem Auf-der-Lauer-Liegen gelungen.

Ein steirischer Reliktföhrenwald überzogen mit rosa leuchtenden Schneeheiden im zeitigen Frühjahr
Ein steirischer Reliktföhrenwald überzogen mit rosa leuchtenden Schneeheiden im zeitigen Frühjahr © Christine Sonvilla, Marc Graf/Knesebeck Verlag


Wie ein Wolfsfoto, das es gerade noch ins Buch geschafft hat. Fast hätte man auf Fremdmaterial zurückgreifen müssen, als der rettende Anruf eines Försters aus der Lausitz kam, so das Paar, das auch mit Fotofallen arbeitet: „Den halben August, den halben Juni, eine Woche im Oktober haben wir beide getrennt voneinander auf ein Stück Wald geschaut und gehofft, dass ein Wolf durch den Bildausschnitt läuft.“ Das besagte Wolfsbild ist eines von rund 20 Schlüsselfotos im Buch, so der Oberösterreicher Graf: „Für andere mag das einfach nur ein Wolfsfoto sein. Aber wenn der Wolf auf bis zu 15 Meter nahe kommt und dich anschaut, dann ist das für immer und ewig grandios.“

Stellt sich die Frage, wie man die unzähligen einsamen Stunden im Wald verbringt. „Du musst immer dessen gewahr sein, dass in deinem Bildausschnitt ein Tier auftaucht. Wirklich schwierig ist es, die Aufmerksamkeit über Stunden zu halten. Es gibt ja leider weder einen Service noch einen Kaffeeautomaten in der Wildnis. Da muss man einfach durchtauchen“, gibt Christina Sonvilla Einblicke in die hohe Kunst der Naturfotografie. Die Kamera beiseitelegen, das kann das Paar ziemlich gut, so Graf: „Ich habe mir abgewöhnt, aus allen Dingen ein Fotomotiv zu machen. Denn man würde sonst aus den schönsten Sonnenuntergängen immer einen Stress machen, wenn keine Kamera dabei ist.“