Wie gerne doch verwenden Musikjournalisten die Metapher des „Cocktails“ für ein hochexplosives Musikmischmasch! Nur blöd, dass der Popstar der Stunde, die britisch-kosovarische Dua Lipa, seine Werke gänzlich anders anlegt. Mit „Future Nostalgia“ hat die 25-Jährige bereits im Titel die Essenz des Albums beschrieben. 80er-Jahre, schnepfende Funkbässe, futuristische Melodieführung. Kein Cocktail, keine Mischung, sortenreiner Alkohol! Dua Lipa hat in diesem schweren Jahr ihr absolut nicht schwieriges zweites Album veröffentlicht. Es ist ein Shot, ein hochprozentiges Stamperl, das an der Theke bereits geleert wird und nicht erst auf den Tischservice wartet.

13 Songs, 43 Minuten Spielzeit, keine einzige Ballade, nur Discofieber und Hormonausstoß. Dieses Hochglanzwerk war genau jene Art von Musik, die 2020 hochansteckend wirkte. Als Gegengift für bettlägerige, graue Lockdown-Tage. Vergessen die geschlossenen Clubs der Stadt, vergessen all der Ernst, mit dem so gar nichts mehr Sinn macht. Dua Lipas „Future Nostalgia“ ist genau deshalb ein „Album des Jahres“ geworden.

Man kann nicht genug bekommen von dieser tiefen, wetzenden Stimme. Möchte immerfort einen weiteren Shot an der Bar bestellen, auch wenn einen stets der gleiche Geschmack und am nächsten Tag Kopfweh erwartet. Lieder wie „Cool“ oder „Physical“ entführen in vernebelte Discos, in denen jeder versucht, den Schweiß durch übermäßigen Parfumduft zu überdecken, in denen nach dem Klogang drängend nach der Begleitung gesucht wird. Diese Songs führen auf die Tanzfläche, auf der geflirtet, betrogen, sich vertragen und vergessen wird. Dort, wo Kopfkino entsteht und auf der man so tut, als wäre das alles ganz normal, was man hier treibt. Doch nach jedem Feuerwerk wird aufgeräumt.

Keiner wusste das in diesem Jahr so gut wie Taylor Swift. Das einstige Country-Sternchen bestach mit gleich zwei Alben. „Folklore“ und „evermore“ zeugen davon, welche Geschichten unsere Biografien, trotz aller Triebe und Plattitüden, imstande sind zu erzählen. Die beiden Songwriter-Werke sind zusammen mit „The National“-Mastermind Aaron Dessner entstanden. Die 31-jährige Swift schlüpft in die Rolle verschiedener Charaktere, zeigt, dass eine wahre Szenenbildnerin in ihr steckt.


Die vermeintlichen Refrains von „the 1“ oder „august“ suchen die Kraft in der Untertreibung. Ekstase findet man hier nicht. Dafür Ohrwürmer, die bei all der Ruhe eigentlich unmöglich scheinen. Außer man ist die geniale Taylor Swift. Die atmosphärischen Goth-Folk-Songs sind der Gegenentwurf zum stampfenden Pop-Exzess einer Dua Lipa. Da der Rausch, dort das nüchterne Streifen im Wald. Beides war 2020 bitter nötig.

Julian Melichar

Weiterer Lichtblick im Juli

Irene Fuhrmann
Irene Fuhrmann © (c) GEPA pictures/ Johannes Friedl