Die Großmutter starb an Eierstockkrebs, die Mutter erkrankte mit 43 Jahren an Brustkrebs, die Tochter bekommt mit 32 die Diagnose Melanom, also schwarzer Hautkrebs: Eine solche Familiengeschichte hat Jochen Geigl als Stammbaum aufgezeichnet vor sich liegen – und mit solchen Stammbäumen haben es er und seine Kollegen der Humangenetik an der MedUni Graz jeden Tag zu tun. Rund fünf bis zehn Prozent aller Tumorerkrankungen sind genetisch bedingt – was nicht viel klingt, kann für ganze Familien dramatische Folgen haben. Von den mehr als 3000 Beratungen pro Jahr, die an der Grazer Humangenetik durchgeführt werden, geht es in mehr als der Hälfte der Fälle um die Frage, ob der Krebs in den Genen liegt. Die Humangenetik in Graz ist dabei eines von nur zwei zertifizierten Expertisezentren in Österreich für solche erblichen Tumordispositionssyndrome.

Wie kommen Patienten zur genetischen Beratung? „Wir haben Zuweisungen von Kollegen an Krankenhäusern, die ihre Patienten zu uns schicken“, sagt Geigl. „Aber gerade in der jungen Generation kommen auch viele Menschen aus eigenem Antrieb zu uns, weil sie sich Klarheit verschaffen wollen.“ Ein breites öffentliches Bewusstsein für den Faktor Genetik bei Krebserkrankungen schuf Schauspielerin Angelina Jolie im Jahr 2013, als sie ihre eigene genetische Krebs-Vorbelastung öffentlich machte: Die BRCA-Gene sind seither als „Brustkrebsgene“ bekannt. 

Versteckt sich eine Erkrankung in den Genen?

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Stellt sich im Beratungsgespräch heraus, es gab nur eine Großmutter, die mit 85 Jahren an Darmkrebs erkrankt ist, und sonst keine Krebsfälle in der Familie, dann ist keine genetische Untersuchung angezeigt. Sinnvoll ist eine genetische Untersuchung dann, wenn zumindest diese zwei Faktoren zutreffen: Ein Familienmitglied ist relativ jung an Krebs erkrankt oder es gibt eine Häufung von Krebserkrankungen innerhalb der Familie. Besteht der Verdacht auf ein genetisch bedingtes Krebsrisiko, dann wird eine kleine Auswahl der 20.000 Gene, die den Bauplan eines jeden Menschen ausmachen, untersucht. „Wir gehen der Frage nach: Gibt es eine Variante in meinem Bauplan, die eine Krankheit ausbrechen lässt?“, erklärt Geigl.

Jochen Geigl, Leiter des Instituts für Humangenetik der MedUni Graz
Jochen Geigl, Leiter des Instituts für Humangenetik der MedUni Graz © kk

Für eine solche Untersuchung ist nur eine Blutprobe notwendig – das Ergebnis liegt nach vier, fünf Wochen vor. Möglich macht das das sogenannte „Next Generation Sequencing“, also eine neue Generation der DNA-Sequenzierung. Um das zu veranschaulichen: Um das gesamte Erbgut eines Menschen zu entschlüsseln, brauchte man früher Jahre – heute ist das in wenigen Stunden möglich. Doch die noch viel größere Aufgabe: Die Ergebnisse der genetischen Untersuchung zu interpretieren und den Betroffenen zu erklären, was das nun für sie bedeuten kann – dafür gibt es die Fachärztinnen und Fachärzte für Medizinische Genetik.

Darmkrebs: 1000 Polypen im Darm

Ein genetisches Tumorsyndrom kann zum Beispiel so aussehen: Bei der familiären adenomatösen Polyposis entwickeln Betroffene unzählige Gewächse (medizinisch: Polypen) im Darm, die unbehandelt zu Darmkrebs werden. „Betroffene haben hunderte bis tausende Polypen im Darm“, erklärt Franziska Baumann-Durchschein, Ärztin an der Abteilung für Gastroenterologie am LKH-Uniklinikum Graz. „Würden wir diese nicht entfernen, hat der Betroffene mit 50 Jahren zu fast 100 Prozent Darmkrebs.“

Das häufigste erbliche Darmkrebssyndrom wiederum ist das sogenannte Lynch-Syndrom, das für rund drei Prozent aller Darmkrebsfälle verantwortlich ist. Dabei liegt das Risiko, an Dickdarmkrebs zu erkranken, bei mehr als 50 Prozent, auch das Risiko für Gebärmutterkrebs steigt auf 40 Prozent. Bei Mutationen in den sogenannten Brustkrebsgenen BRCA1 und BRCA2 kommt es bei 60 bis 70 Prozent der Betroffenen zu Brustkrebs und in 30 bis 40 Prozent zu Eierstockkrebs. Allerdings: Auch das Risiko für Prostatakrebs steigt bei männlichen Trägern dieser Genvariante auf 30 bis 40 Prozent an!

„Die Patienten fühlen sich wie tickende Zeitbomben, daher ist es so wichtig, dass sie eine Anlaufstelle haben, wo sie begleitet werden und erfahren, welche Vorsorgeuntersuchungen sie brauchen“, sagt Darmspezialistin Baumann-Durchschein. In Zusammenarbeit mit allen beteiligten Fachdisziplinen (wie Gynäkologie, Gastroenterologie, Urologie, Dermatologie, etc.) wurden daher Leitlinien für die notwendigen Vorsorgeuntersuchungen für Menschen mit erblichen Tumorsyndromen entwickelt.

Für Träger und Trägerinnen einer BRCA-Mutation kann das zum Beispiel bedeuten: ab dem Alter von 25 Jahren jährlich zur MRT-Untersuchung der Brust, ab 35 zusätzlich jährlich zur Mammografie – oder Betroffene entschließen sich zu einer vorsorglichen Entfernung der Eierstöcke/Eileiter oder der Brustdrüsen. Bei der familiären adenomatösen Polyposis wiederum sollten Betroffene ab dem 12. Lebensjahr jährlich zur Darmspiegelung und zusätzlich ab 25 regelmäßig zur Magen- und Dünndarmspiegelung.

Krebs-Gen: Sage ich es meinen Kindern?

Wenn ich eine Genvariante in mir trage, gebe ich diese zu 50 Prozent an mein Kind weiter – bei jedem Kind liegt das Risiko also bei 50 Prozent, dass es die Genvariante erbt. Eine große Frage für Betroffene ist natürlich: Wie gehe ich mit dem genetischen Wissen um? Generell, so besagt es auch das österreichische Gentechnikgesetz, erfährt das Ergebnis einer genetischen Untersuchung nur der Betroffene selbst – es gibt keine rechtliche Verpflichtung, das Ergebnis mit jemandem aus der Familie zu teilen. „Wie man mit dem Wissen um die genetische Vorbelastung umgeht, muss jeder selbst entscheiden“, sagt Geigl – im Rahmen des Aufklärungsgesprächs wird aber daraufhin gewiesen, was die Ergebnisse für andere Familienmitglieder bedeuten können.

Geigl wird nie das Gespräch mit einer Patientin vergessen, die bereits unheilbar an Eierstockkrebs erkrankt war und bei der eine genetische Vorbelastung gefunden wurde: Die Frau sagte zu ihm: „Wenn ich nur gewusst hätte, dass man sich testen lassen kann, ich hätte mich ja vor dem Krebs schützen können.“ Diese Aussage, so der erfahrene Arzt, geht ihm bis heute nahe.