Der Schorsch ist tot, weit über 80, friedlich eingeschlafen auf dem Sofa; und der Max, sein bester Freund, trauert. Nie wieder gemeinsam reden, gemeinsam schweigen, gemeinsam Äpfel essen, die Krummstiel hat der Schorsch besonders gerne gehabt. Die Gunda hat die Glocken geläutet, und jetzt wird Totenwache gehalten. Bis Mitternacht die Männer, dann sind die Frauen an der Reihe. Nur Max bleibt die ganze Nacht. Stundenlang sitzen die Frauen und Männer neben der Leiche und erzählen einander Geschichten über den Toten. So wird er in der Erinnerung am Leben erhalten. „Erinnerungen tragen dich weiter als jemals deine Füße“, heißt es an einer Stelle dieses Buches. „Im Schnee“ heißt es, der Autor Tommie Goerz, und er hat eine große Geschichte über eine kleine Welt geschrieben – eine Dorfgeschichte der ganz besonderen Art.
Austhal heißt das fiktive Dorf irgendwo im Fränkischen, und was es dort alles nicht mehr gibt, trifft auf den ländlichen Raum im Allgemeinen zu: keinen Bäcker, keinen Metzger, keinen Schmied, keinen Schuster, nur noch ein einziges Wirtshaus, und das sperrt nur noch zweimal die Woche auf. Natürlich kennt hier jeder jeden. Das schafft Gemeinschaft, aber auch Enge. Denn die Dorfgeschichte von Tommie Goerz ist zwar zutiefst wehmütig und umrandet mit einem Trauerflor, aber nie wehleidig. Goerz verklärt nicht, verkleistert nicht, schafft kein Idyll, das nie existiert hat. Neben liebevoll beschriebenen Charakteren stellt er die Engherzigen und Sturköpfigen, die Missmutigen und Ausgrenzer. „Dieses Dorf ist wie jedes Dorf“, sagt Max zu einem Fotografen, der den vermeintlichen Retro-Charme des Ortes einfangen möchte. „Da wohnen Leute, und da gibt es Misthaufen. Und je näher man herankommt, desto mehr stinkt es.“
Ungewöhnliches Buch, ungewöhnlicher Autor
Dennoch ist „Im Schnee“ in seiner sprachlichen Friedlichkeit und Langsamkeit ein wohltuendes Gegenstück zum Toben der Welt. Und ebenso ungewöhnlich wie dieses Buch ist der Autor. Tommie Goerz heißt im richtigen Leben Marius Kliesch, war Langzeitstudent, Hüttenwirt, Dachdecker, Automatenwart und Schallplattenvertreter, bevor er mit dem Schreiben begann. Bekannt wurde er mit einer Krimi-Reihe mit dem urfränkischen Kommissar Friedo Behütuns.
Zum Begräbnis von Schorsch taucht Max nicht auf. Er ist im Schnee geblieben. Und auch wenn in diesem wunderbaren Buch viel die Rede vom Tod ist, wird doch das Leben gefeiert - in all seiner abgründigen Schönheit.
Tommie Goerz. Im Schnee. Piper, 172 Seiten, 23,50 Euro.