Etwas zu kreieren, liegt ihr: „Ich war schon immer kreativ und gestalterisch“, erinnert sich Kerstin Jesse an ihre Kindheit und Jugendzeit. Als Senior-Kuratorin des Leopold-Museums gestaltete sie nun gemeinsam mit der weltweit gefragten Schiele-Expertin Jane Kallir die aktuelle Ausstellung „Zeiten des Umbruchs“, welche mit 130 Werken Einblick in die letzten Lebens- und Schaffensjahre Egon Schieles (1889-1918) in der Zeit von 1914-1918 gibt.
Der Weg zu dieser bedeutenden Stelle begann somit in der Schulwahl, denn sie war die einzige von vier Geschwistern, die nicht die Handelsakademie besuchte, sondern die Modeschule vorzog. Auch danach hat sie immer wieder Mode entworfen und gemacht, wofür ihr jetzt aber die Zeit fehle.
Immer am neuesten Stand
„Die Arbeit als Kuratorin ist sehr zeitintensiv“, erzählt die gebürtige Klagenfurterin: „Es gibt viel Recherche- und Archivarbeit, man muss sich in jedes Thema einlesen und vieles im Blick haben, denn vier bis fünf Monate vor der Ausstellung muss alles fertig sein.“ Dazu gehört auch der Katalog, der mit 336 Seiten und 332 Abbildungen, die Ausstellung mit Artikeln von Expertinnen zu dem Künstler, seiner Frau und der damaligen Zeit, vertieft. Um aktuell zu bleiben, nimmt Jesse regelmäßig an Tagungen teil und hält Vorträge: „Ich habe den Anspruch, Neues zu bringen.“ Alle zwei Jahre organisiert das Leopold Museum selbst ein internationales Schiele-Symposion.
Bevor sie im Leopold Museum und bei Egon Schiele landete, sammelte die vielseitig Interessierte nach der Matura in Klagenfurt bei einer Tischlerei und dann in einer Steuerberatungskanzlei ihre ersten Arbeitserfahrungen. Schließlich setzte sich die Kreativität durch: „Ich habe immer gezeichnet, und eine Mappe für ein Kunststudium vorbereitet – die Antwort war ernüchternd.“
So wurde es ein Studium der Kunstgeschichte in Wien mit der Spezialisierung auf den Beginn des 20. Jahrhunderts: „Wien um 1900 war sehr spannend, so viele Intellektuelle haben sich hier getroffen“, ist Jesse nach wie vor begeistert von diesem intensiven Zeitabschnitt. Die zahlreichen Bewerbungen in vielen Museen mündeten in einer vorerst einjährigen Mitarbeit in einem Projekt zu Herbert Boeckl im Belvedere, woraus 14 Jahre als Assistenzkuratorin in dem angesehenen Haus wurden. Ihr erstes Projekt, eine Ausstellung zu Gerhart Frankl im Jahr 2016, führte sie indirekt wieder nach Kärnten, da der Künstler ein Malschüler von Anton Kolig war. Für die Eröffnung konnte sie niemand Geringeren als den Schauspieler und Filmexperten Frank Hoffmann gewinnen.
Gerne erinnert sich die Kunstexpertin auch an die von ihr mitgestaltete Ausstellung über die Künstlerinnen des Wiener Art Club, dem auch Maria Lassnig angehörte, in Krems im Jahr 2021/22. Im Zuge ihrer Recherchen stieß sie auf den Sohn der bislang wenig beachteten Künstlerin Marcia Hopman in den USA und konnte durch dessen Leihgaben die Exil-Wienerin aus der Vergessenheit holen.
Großes Interesse an Neuem
Andere Inhalte sucht die sympathische Kuratorin, die gerne alleine lebt, in ihrer Freizeit: „Ich bin froh, wenn ich etwas ganz anderes machen kann.“ Neben dem Häkeln von Tüchern, liest sie gerne Biographien über interessante Menschen, arbeitet mit Papier oder malt Aquarelle. Sie ist aber auch gerne in der Natur etwa beim Wandern in den Bergen oder auf Reisen, immer bereit, etwas Neues zu erleben: „In Städten halte ich mich immer gerne in Nebengassen auf, um Interessantes zu entdecken.“