Die landesweiten Corona-Proteste in den Niederlanden vom Wochenende kommen für den Sozialpsychologen Bert Klandermans von der Freien Universität Amsterdam (VU) nicht ganz überraschend. Frust habe sich in den vergangenen Monaten in der Bevölkerung aufgestaut und sich nun mit Beginn weiterer Einschränkungen entladen, sagte Klandermans im APA-Gespräch. "Was aber wirklich schockierend ist, ist die hohe Gewaltbereitschaft."

Ein ähnliches Ausmaß an Gewalt habe er zuletzt Ende der 1970er, Anfang der 1980er im Zuge von Hausbesetzungen und entsprechenden Polizeiräumungen gesehen, erzählte der Wissenschafter. Aus Eindhoven, neben Amsterdam ein Hotspot der Krawalle, kenne er Bilder und Szenen wie jene vom Sonntag überhaupt nicht.

Zunehmend brutaler

Zahlenmäßig waren die Proteste in über zehn Städten des Landes im Grunde nicht außergewöhnlich, doch gingen die Demonstranten zu fortgeschrittener Stunde immer brutaler vor, so wurden Polizisten mit Feuerwerken und Steinen, sogar mit einem Messer angegriffen. Autos wurden in Brand gesteckt, Gebäude demoliert. In Enschede wurde ein Krankenhaus mit Steinen beworfen. Laut ersten Polizeianalysen ist die Gruppe von Demonstranten ein wilder Mix aus Coronaleugnern, Fußball-Hooligans und Neonazis. Klandermans rechnete auch damit, dass Impf-Gegner und Menschen, die besonders hart von der Coronakrise getroffen wurden und etwa arbeitslos geworden sind, unter den Teilnehmern waren.

"Ich habe schon vor einigen Monaten gesagt, dass wohl eine Zeit kommen wird, in der die Leute sagen, ich kann nicht mehr und will nicht mehr mitmachen", antwortete Klandermans auf die Frage, ob die Proteste vorhersehbar waren. Der Frust der Bevölkerung sei konstant gewachsen. Schritt für Schritt seien auch die Möglichkeiten, etwas zu machen, sich beschäftigt zu halten oder abzulenken, dezimiert worden, erklärte er. Am Samstagabend (21.00 Uhr) war erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie in den Niederlanden eine Ausgangssperre in Kraft getreten. Vor allem während der Anfangsphase der Krise im Frühjahr vergangenen Jahres setzte die Regierung in Den Haag auf weniger restriktive Maßnahmen als die meisten anderen EU-Staaten. Bereits im September wurde das Land aber hart von der zweiten Welle getroffen.

Frustriert

Nach fast einem Jahr der Beschränkungen seien die Menschen - wie in den meisten anderen Ländern - zunehmend frustriert und "weniger gewillt, zu kooperieren", meinte der Professor für angewandte Sozialpsychologie. Zumindest gelte das für einen Teil der Bevölkerung, der andere glaube weiterhin an die Notwendigkeit eines größeren Zusammenhalts der Gesellschaft. Keinesfalls seien die Proteste repräsentativ.

Wirklich gewaltbereit ist nach Klandermans Ansicht auch nur ein Bruchteil der Demonstrierenden und hier vor allem Jüngere. "Je später die Stunde, desto mehr Gewalt." Nach 21.00 Uhr hätten die Krawalle und Auseinandersetzungen in den Städten erst so richtig begonnen.

Gefragt, ob etwa auch Bilder und Videos aus den USA vom Angriff auf das Kapitol in Washington Anfang Jänner die Gewaltbereitschaft in Europa, speziell in den Niederlanden, befeuert hätten, sagte Klandermanns: "Demonstrationen produzieren weitere Demonstrationen." Es sei jedenfalls klar, dass Proteste gerne imitiert werden. Generell spiegeln sie wohl aber auch die nahezu weltweit sichtbare Spaltung der Gesellschaft wider, die durch die Coronakrise noch verstärkt wurde.