Häuslbauer können sich den Traum vom Eigenheim fast zum Nulltarif finanzieren. Sparer schauen ungläubig auf die Zinsen, die Banken für Tagesgeld bieten, und wenden sich immer öfter riskanteren Anlagen wie Anleihen oder Aktien zu. Beide Phänomene sind Folge einer Politik, die vor zwanzig Jahren noch als Fantasie-Theorie von Wissenschaftlern im Elfenbeinturm angesehen wurde: Minus-Zinsen und Gelddrucken.

Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt und im Örtchen Jackson Hole beraten die Notenbanker der Welt über die Fortsetzung dieser Politik. Nun mehren sich in der US-Notenbank (Fed) die Stimmen, die für ein allmähliches Ende des Gelddruckens plädieren. Allerdings müsste Fed-Chef Jerome Powell auch US-Präsidenten Joe Biden auf seine Seite bekommen. Doch dieser hat eine neue Wirtschaftstheorie zum Kern seiner wirtschaftlichen Reformen gemacht hat: Die Modern Monetary Theory, die moderne Geldtheorie, kurz MMT.

Aus den USA kommend, bricht diese Theorie mit den bisher gültigen Paradigmen, wie der Ökonom Gustav Horn erklärt. Im Neoliberalismus sollte sich der Staat nur in Notfällen verschulden, Ziel sei ein möglichst ausgeglichenes Budget. „Die MMT kehrt das um und sagt: Im Grunde genommen, in einem weiten Rahmen, kann der Staat sich so viel verschulden, wie er will. Zumindest, solange die Zentralbank mitspielt und genügend Geld druckt.“ Denn der Staat - so die Theorie - ist kein „Nutzer“ von Geld, sondern erschafft es.

Inflationssorgen

Als gelernter Österreicher reagiert man auf so eine These leicht ungläubig. Denn nach dem Ersten Weltkrieg hat das Land genau das gemacht und ist damit kolossal gescheitert. Die Hyperinflation der Krone führte dazu, dass ein Betrag, der 1913 noch für ein Einfamilienhaus genügte, 1923 gerade mal für ein paar Lebensmittel reichte. Erst die Einführung des harten Schilling konnte den Verfall bremsen.

Doch die MMT würde das bedenken, sagt Horn, der bis 2019 das deutsche Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung leitete. „Was die MMT-Befürworter auch sagen: Die Zentralbank soll die Finanzierung durch frisches Geld nur solange machen, wie das Inflationsziel nicht überschritten wird. Sobald sich so eine Inflationsentwicklung abzeichnet, muss die Zentralbank bremsen.“ Solange das nicht der Fall sei, könnten Staat mithilfe der Notenbanken wichtige Investitionen anschieben. Denn, so erklärt Horn, die Höhe der Staatsverschuldung sei in der MMT nicht das ausschlaggebende Kriterium ist, sondern die Kosten dafür, die Zinsen.

Und Zinsen sind seit Jahren im Keller. Dazu käme, dass Staaten ja nicht sterben könnten, erläutert Horn. „Zurückzahlen müssen Staaten ihre Schulden daher nicht. Sie können sie verlängern.“ Der Schuldenstand ließe sich durch Wachstum reduzieren. „Deutschland hatte nach der Finanzkrise einen Schuldenstand von mehr als 80 Prozent des BIP. Durch Wachstum wurde der Wert um 20 Prozent gesenkt.“

Wenig Neues

Bei Politikern ist MMT dementsprechend beliebt. Doch dieser neue Ansatz stößt längst nicht bei allen Ökonomen auf Begeisterung. „Man darf sich keinesfalls zu 100 Prozent auf die MMT verlassen“, sagt etwa Richard Sturn, Leiter des Instituts für Finanzwissenschaft und Öffentliche Wirtschaft der Universität Graz. Und: vieles in der Theorie sei gar nicht so neu. Dass Staaten angesichts Klimakrise, Corona und einer alternden Bevölkerung investieren müssten, würden auch Vertreter anderer Theorien so sehen.

Nur weil die MMT das auch postuliere, sollte man sie nicht zur neuen Leitlinie machen. „Es gibt einen Knackpunkt, den die MMT-Vertreter gerne zur Seite schieben: Das Ganze funktioniert theoretisch nur mit einem gut aufgestellten öffentlichen Sektor.“ Der Staat müsse vernünftig arbeiten. Regierung und Notenbank müssten ihre Politik aufeinander abstimmen. So etwas sei, wenn überhaupt, nur in den USA oder Japan möglich.“

Untauglich für Österreich

"Die MMT in Österreich anzuwenden, wäre komplett lächerlich“, sagt Sturn. „Wir brauchen hier andere Zugänge zum Thema Staatsverschuldung.“ Auch auf europäischer Ebene könne das nicht gelingen. „In der Eurozone gibt es viel Störpotenzial“. Die Abstimmung zwischen EZB, EU-Kommission und die Eurostaaten sei nicht gut genug.

Ganz verteufeln will der Ökonom die neue Theorie aber nicht. Denn die Abkehr von einer Idee des Geldes mit „innerem Wert“ (wie die Goldbindung bis 1973) sei bei einem gut ausgebauten Kredit- und Finanzsystem berechtigt. „Es gibt hier eine starke Beziehung zwischen Geld und Kredit.“ Was Sturn jedoch irritiert: „Die Vertreter der MMT tun so, als würden sie eine Heilslehre verkünden.“ Ob auch die Notenbanker diesen Heilsversprechen Glauben schenken, bleibt abzuwarten.