Wenn Sie im April den Chef-Sessel der Borealis gegen den des OMV-Vorstandes tauschen, packt Sie da ein bisschen die Wehmut?
ALFRED STERN: Es ist wie Yin und Yang. Ich freue ich mich sehr darauf, weil der Strategiewechsel bei der OMV eine große Chance ist. Es sind tolle Veränderungen, die wir dort antreiben können. Ich war seit 2008 bei der Borealis. Viel von dem, was wir heute sind, habe ich mit aufgebaut. 2014 haben wird das Thema Kunststoff-Recycling angefangen und in der letzten Phase noch sehr große Wachstumsprojekte gestartet.

Das Corona-Jahr hat auch der immer bestens verdienenden Borealis einen Dämpfer versetzt. Wie läuft es derzeit?
Wenn ich andere Industrien sehe, ist Borealis da noch sehr gut herausgekommen. Das vierte Quartal 2020 war besser als das vierte Quartal 2019. Dieser Erholungstrend setzt sich heuer fort.

Sind das Nachholeffekte?
2020 haben wir es insgesamt geschafft, bei den Mengen zwei Prozent zu wachsen. Dabei gab es in manchen Bereichen starke Mengenrückgänge. Automobil war im zweiten Quartal 2020 wirklich schlimm. Zum Schluss waren wir fast wieder auf Vorjahresniveau. Im Hygienebereich, wo wir Vliese etwa für Masken oder Operationsmäntel und Material für Transfusionsbeutel herstellen, besteht nach wie vor hoher Bedarf. Das sehen wir auch bei Lebensmittelverpackungen.

Die Plastikflut hat noch zugenommen.
Viele Leute haben in der Krise gesehen, dass eine Verpackung nicht nur dazu da ist, Schau zu machen, sondern um Ware hygienisch zu halten.

Die große Chance mit der OMV sehen Sie wo?
Der Markt der Polyolefine (Kunststoff-Rohstoffe, Anm.) wird in den nächsten Jahren stark wachsen, um drei, vier Prozent im Jahr. Wir haben gute Innovationen und Technologie, wo wir entlang der Wertschöpfungskette besser als andere punkten können.

Ein Widerspruch zum Ziel, die Plastikflut einzudämmen?
Nirgendwo auf der Welt wird der Konsum weniger. Dieser Realität blicken wir ins Auge.

Müssen wir nicht viel mehr Dinge in Karton verpacken?
Kunststoffe überall ersetzen zu wollen, ist eine Illusion. Sie sind in vielen Bereichen das beste Material. Wir müssen die Müllberge durch Kreislaufwirtschaft reduzieren.

Die Pläne der EU dazu halten?
Wir haben die Technologien schon zur Verfügung. Im Moment ist die Wirtschaftlichkeit von Investitionen noch problematisch, auch weil durch Corona die Kosten für Neuware ganz stark zurückgegangen sind. Wir haben ja zwei eigene große Recycling-Betriebe und da war die Situation 2020 wirtschaftlich angespannt. 

Was brauchen wir, um schnell zu Kreisläufen zu kommen?
Was man jetzt schon machen kann und soll, ist Design for Circularity, damit Produkte kreislauffähig werden. Das würde die Qualität im Recycling deutlich verbessern und kostengünstiger machen.

Experten sagen, dass beim Design für Kreislaufwirtschaft noch viel Luft nach oben ist.

Ja, das ist so. Alle haben sich in den vergangenen Jahren voll darauf konzentriert, die Verpackungen so günstig wie möglich, so schön wie möglich und so funktionsfähig wie möglich zu gestalten. Wenn wir darüber künftig den Kreislauf des Recyclings drüber legen, wird es sehr viele neue Ideen geben.

Gute Rezyklate sind derzeit Mangelware und werden stark nachgefragt. Brauchen wir ein Pfandsystem, damit wir im Müll den Wertstoff erkennen?
Diesen Wert zu schaffen, ist das Wichtigste. Pfand ist eine Möglichkeit, um dem Verpackungsmüll einen Wert zu geben, aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Wir werden gesetzliche und steuerliche Rahmenbedingungen brauchen. Wir müssen Investitionssicherheit schaffen. Da geht es um sehr viel Geld. Es wird zwar am Markt sicher nicht mehr so verrückt werden wie 2020, aber wir werden weiter Schwankungen sehen, deshalb wird der Umstieg von allein nicht schnell genug gehen.

Wie sollten diese Rahmenbedingungen aussehen?

Dazu drei Beispiele: Der Plastikmüll im Meer kommt nicht aus Österreich. Aber Europa exportiert große Mengen Plastikmüll nach Asien. Es wäre hilfreich, wenn das nicht passieren würde. Zweitens könnte man für bestimmte Anwendungen eine Mindestmenge Rezyklatanteil festlegen. Das Dritte wäre, Neuware teurer zu machen. Man kann die Verpackungskosten für alle, die sie in den Verkehr bringen, über die Gebühren, die die ARA einhebt, steuern. Macht man die ARA-Gebühr ökomoduliert, also ökologisch abgestuft, ist es für die einen günstiger und für die anderen teurer, man erzielt sofort eine Lenkungswirkung. Die gelante Plastiksteuer von 800 Euro pro Tonne müsste man so umlegen und nicht aus einem Ministeriumsbudget nehmen.

Haben Sie schon einmal Zuhause die Unmengen an Plastik von Lebensmitteln gesammelt und als Fachmann sogar sortiert?
Müssen wir als Konsumenten zu Kunststoff-Experten werden?
Wäre das Voraussetzung, um das Recycling hinzukriegen, würde es noch länger dauern. Das erste, was wichtig ist, dass wirklich gesammelt wird und die Verunreinigungen nicht überhand nehmen. Es ist erstaunlich, wie gut man heute die verschiedenen Kunststoffe und Farben mit Technologie auseinander sortieren kann. Wir haben gerade in Lahnstein in Deutschland mit anderen Firmen eine Demonstrationsanlage in Betrieb genommen, wo wir modernste Technik einsetzen, um die Qualität des Recyklats näher an Neuware bringen zu können.

Von den Milliarden Tonnen Plastik wird derzeit wie viel rezykliert?
In Europa gut zehn Prozent.

Und wie viel wäre möglich?
Theoretisch alles, die Frage ist, zu welcher Qualität und zu welchen Kosten. Die Borealis verfolgt ein Kaskadensystem.

Was bedeutet das?
Die erste Stufe ist, von Einmalanwendungen abzugehen. Man sieht immer mehr, dass Dinge wiederverwendbar sind, da kann man auch noch viel mehr machen. Die zweite Stufe ist mechanisches Zerstückeln, Waschen, Sortieren, Einschmelzen. Für sehr gute Qualität kann man 40 bis 50 Prozent so aufbereiten. Die dritte Stufe ist chemisches Recycling, bei dem man den Kunststoff wieder in seine Bausteine zerlegt und den Zyklus neu starten kann. Man kann das Material unendlich im Kreis fahren.