Die Betroffenheit über den Tod des prominenten Grazer Impfkritikers, Wissenschaftlers und Autors Clemens G. Arvay (42) ist in den sozialen Medien groß. In den Foren geht es rund. Der Autor hat einen Bestseller zu den Risiken der Covid-Impfung publiziert, auf Youtube und auf unzähligen TV-Stationen zu Pandemie und Coronamaßnahmen immer wieder kritisch Stellung bezogen. Während es aus seiner Familie hieß, die Gründe seien privat, sollen es bleiben und man wolle über Motive für den Suizid des 42-Jährigen nicht spekulieren, ist für seine Follower glasklar: Der Druck seiner Gegner sei einfach zu groß gewesen. Er sei von Medien ins Schwurbler-Eck gestellt worden, ihm sei – auch von anonymen Internet-Hatern – seine wissenschaftliche Reputation abgesprochen worden, er sei enormen Anfeindungen und Abqualifizierungen ausgesetzt gewesen. Das ist nicht aus der Luft gegriffen. Es ist ein über Monate – auch im Netz – vielfach dokumentiertes Faktum.

In ersten Video-Reaktionen auf Youtube wird der Zusammenhang mit dem Hass im Netz immer wieder unterstrichen. In Internet-Foren und E-Mails werden auch Journalistinnen und Journalisten der "Systemmedien" für ihren Umgang mit Corona- und Impfskeptikern scharf kritisiert. Über seine Motive für den Suizid ist offiziell bisher nichts bekannt oder belegt. Aber seine Follower stilisieren ihn nun zum prominenten Opfer der "Corona-Mainstream-Diktatur" hoch.

Der Suizid der Ärztin und der Hass im Netz

Sie bringen ihn damit als Gegenbeispiel für den Suizid der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr im Sommer 2022 in Stellung. Die Medizinerin war zur Zielscheibe von Impfkritikern und Coronaleugnern geworden und hatte anonyme Mails mit massiven Morddrohungen bekommen. Sie schloss ob des Drucks ihre Praxis. Ein Monat später beging sie Suizid.

Im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung stand nicht nur der Konnex mit den Anfeindungen, sondern auch die polizeiliche Arbeit, weil die Exekutive für die Medizinerin keine ausreichenden Schutzmaßnahmen eingeleitet hätte. Die Polizei wies dies zurück. Medial widmete man sich aber auch in großen Stücken den problematischen, anonymen Internet-Hatern. Auch die Politik – bis hin zu Bundespräsident Alexander Van der Bellen – fand mahnende Worte zum Hass im Netz. Das ist eine Reflexion, die man im Fall Arvay bisher nur seinen Followern überlässt.

Die Coronawunden unserer Gesellschaft sind – zumindest im Online-Diskurs – wieder weit klaffend aufgerissen. Die Parallelen sind offensichtlich: Auf beiden Seiten des Coronagrabens werden auch persönliche Tragödien als Waffen im Diskurs eingesetzt. Jedes Lager trägt nun seine Märtyrer vor sich her.

Von Schafen und Feinden der Herdenimmunität

Es ist ein Kampf zwischen zwei Polen: Die einen sehen sich als letzte Kämpfer für die vermeintlich eingeschränkte Meinungsfreiheit in unserem Land. Sie orten ein von Politik und Behörden, aber auch der Pharmaindustrie und hörigen Forschern verordnetes Mainstream-Meinungsdiktat und stellen teils gar die Demokratie infrage. Sie polemisieren gegen Geimpfte: Diese trotteten quasi in der Pandemie als unkritische Schafherde hinter einem politischen Panikorchester hinterher. Ja, viele orteten sogar schon Züge einer Diktatur in Österreich.

Die andere Seite desavouiert wiederum rasch alle Impf- und Coronamaßnahmen-Skeptiker als unsolidarische Schwurbler und Verschwörungstheoretiker. Auch diese Seite sieht sich als Bewahrer der Meinungsfreiheit und natürlich einer liberalen Demokratie. Außer Gegenmeinungen gefährden das Ziel der Herdenimmunität. Dann hat man alle Skeptiker in einen Topf voller Verschwörungstheoretiker geworfen. Nein, jene, die auf den Straßen gegen Coronamaßnahmen demonstriert haben, waren nicht allesamt Rechtsradikale und Staatsfeinde.

Soziale Medien als Brandbeschleuniger

All das sorgte durch die sozialen Medien als Brandbeschleuniger für den Sprengstoff, der den sozialen Frieden im Land auf eine harte Probe stellen sollte. So stehen wir heute immer noch auf zwei Seiten eines tiefen Grabens. Und wir können diesen wohl nur überbrücken, wenn wir miteinander reden, einander zuhören, statt die jeweilige Gegenseite immer nur mit neuen Vorwürfen anzuschütten.

Da würde es zuallererst helfen, von pauschalen Schuldzuweisungen für einzelne Suizide zurückzutreten und die Toten ruhen zu lassen. Und es würde helfen, im Diskurs Gegenmeinungen zuzulassen. Es muss freilich auch – respektvoll – möglich sein, sich in gewissen Punkten nicht zu einigen und Verschwörungstheorien auch als solche zu benennen.

Die rote Linie in der Demokratie

Denn bei aller Emotion muss eines klar sein: Es gibt auch in einer Demokratie eine rote Linie, nämlich dann, wenn Verschwörungstheorien und Fake News aktiv eingesetzt werden, um das System auszuhebeln, dann ist das kein ehrbarer Kampf für die Meinungsfreiheit. Dann ist der erste Schritt über die rote Linie hin zu einer echten Verschwörung getan.