Die Stadt Graz zählt etwas über 300.000 Einwohner. Davon sind ca. 28 Prozent Ausländer, rund die Hälfte von ihnen stammt aus benachbarten EU-Ländern. Die Probleme einer Gesellschaft werden gerne auf ihren ausländischen Bevölkerungsanteil geschoben, und Graz bildet hier keine Ausnahme. Als Nicht-Österreicherin, die über das Ende meines Stadtschreiberin-Jahrs hinaus bleiben möchte, fließe auch ich in diese Statistik ein, wenn auch in eine Kategorie, die nicht als Bedrohung empfunden wird.
Blicken wir ein, zwei Generationen zurück, und schon sieht die Lage anders aus. Ich bin nämlich ein Produkt der großen Immigrationswellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im Falle meines Vaters waren es Süditaliener aus einem Bergdorf namens Greci; auf der mütterlichen Seite waren es Deutsche, die die transatlantische Reise im Zwischendeck antraten. Während im New Yorker Stadtteil Bronx der Vater meines Vaters Gemüse aus einer Schubkarre verkaufte, um seine elfköpfige Familie zu ernähren, schrieben norditalienische Phrenologen, Eugeniker und andere Pseudowissenschaftler Werke über eine minderwertige, mit der norditalienischen nicht verwandte, im Süden des Landes ansässige und an sich kriminelle Rasse, die man am besten durch Auswanderung loswerden sollte. Mein Herz schlägt daher immer auf der Seite der Immigranten, denn die Epigenetik sorgt dafür, dass diese Erfahrung nicht nur in meiner Imagination eingeschrieben bleibt und fortlebt, sondern auch in meiner DNA.
Wir vergessen schnell, dass wir alle einen sogenannten „migrantischen Hintergrund“ haben, wenn wir nur weit genug – meistens nur ein oder zwei Generationen – zurückblicken. Wie viele Menschen in Graz und der Steiermark sind beispielsweise Nachkommen von zwangsumgesiedelten Volksdeutschen, und hallt irgendetwas aus dieser gigantischen Entwurzelung noch nach? Wie viele Menschen sind slowenischer, kroatischer oder ungarischer Herkunft, wenn auch nur auf einer Seite der Familie? Wenn die eigene Familienvergangenheit schmerzhaft ist, blicken wir nicht gerne zurück – doch die Schmerzen bleiben, sie nehmen lediglich eine andere Form an. Die Vergangenheit – das wissen wir inzwischen – ist nie wirklich vergangen: Sie lebt in uns fort, ob uns das bewusst ist oder nicht.
Diaspora-Konflikte mit den Leitkulturen; die psychischen und gesellschaftlichen Folgen von Vertreibung und Immigration, auch in der zweiten und dritten Generation: Vielleicht sollten wir lieber über diese Nachwirkungen in einem gegenwärtigen Europa nachdenken, das ohne Zuwanderung nicht mehr überlebensfähig wäre. Denn Ökonomen haben kalkuliert, dass ohne die Beiträge des ausländischen Bevölkerungsanteils die Finanzierung der Renten in Österreich und anderen westeuropäischen Ländern in verhältnismäßig kurzer Zeit unmöglich würde. Immigration ist nämlich nicht nur mit Problemen verbunden; sie sichert das langfristige Überleben eines alternden Landes. Im April 2023 beschloss der Gemeinderat von Graz – der ersten Menschenrechtsstadt Europas – das Integrationsprojekt „Graz sind wir alle“, um ein zuversichtliches, konstruktives Miteinander zu fördern. Denn es ist sicher besser, wenn wir unserer Zukunft mit Strategien entgegentreten, die in der Realität verankert sind.
Wer will schon in einer monoethnischen Gesellschaft leben? Konsequenterweise müsste man dann auch auf alles verzichten, was aus dem Ausland stammt: Falafel, Spaghetti Bolognese und Sushi, Tommy Hilfiger und Coco Chanel, Rachmaninoff und Chopin, Henrik Ibsen und Vito Acconci – der wie ich Kind italienischer Einwanderer war und Urheber der von den Grazern geliebten Murinsel, wo ich am 11. September um 19 Uhr lesen werde. Sie sind alle, ganz gleich welcher Ansicht, herzlich eingeladen: nicht zu einer Diskussion um das Reizthema Zuwanderung, sondern um über das Phänomen Migration und Entwurzelung an sich, als conditio humana, nachzudenken.
Seit langem beschäftigen mich die Nachwirkungen der Immigration in meiner eigenen Familie: Unter den acht Geschwistern meines Vaters litten mindestens drei an Depression oder Schizophrenie. Was hat ihnen gefehlt? Ab den 1890er Jahren wurde in der Bronx und anderen Greci-Gemeinden ein Theaterstück um den Schutzheiligen des Dorfs, San Bartolomeo, nachgespielt. Ich denke an seine entsetzliche Figur in Michelangelos Jüngstem Gericht, denke daran, wie mein Sohn und ich lange auf die Rückwand der Sixtinischen Kapelle schauten, wo Bartolomeo mit der linken Hand den Mantel seiner abgezogenen Haut trägt und mit der rechten ein Messer, das Instrument seines Martyriums. Der Verlust der eigenen Haut – Nacktheit im äußersten Extrem, ein Körper, der bis auf das Fleisch entblößt ist – ist eine treffende Metapher für die Verletzlichkeit des Einwanderers in einer fremden und feindlichen Umgebung.